„Kannst du dich nicht mal fünf Minütchen alleine beschäftigen?!“ – Wie wir der Selbständigkeit unserer Kinder im Wege stehen

Ich war 18, als ich von Zuhause auszog. Damals war ich noch in der Oberstufe und machte das Abitur. Ein wenig später zog ich erneut um, um mein Studium aufzunehmen. Mein Leben finanzierte ich längst alleine. Mit 13 begann ich mit Babysitten, mit 14 trug ich Zeitungen aus, mit 15 hatte ich einen regelmäßigen Job in einem Friseursalon. Seit meinem 18. Lebensjahr arbeitete ich auf Messen als Hostess und Dolmetscherin. Ich lebte immer wieder im Ausland, reiste, machte Sprachkurse, absolvierte Praktika, forschte für meine Diplomarbeit und jobbte. Alles selbst organisiert und finanziert. Zurück in Deutschland arbeitete ich zunächst auf selbständiger Basis in der Forschung, dann als Unternehmensberaterin, gründete eine gemeinnützige Organisation und arbeitete letztlich viele Jahre in einem Weltkonzern, zuletzt als Projektleiterin. Heute bin ich dabei meine Selbständigkeit aufzubauen und parallel dazu eine Schule zu gründen.

Ja, ich denke, ich bin das, was man mit einem selbständigen Menschen meint, der sein eigenes Leben in die Hand nimmt und unabhängig ist. Die Sache ist, ich wurde nie (!) zur Selbständigkeit erzogen! Es war eher eine Mischung aus „dem natürlichen Gang der Dinge“ und der realen Notwendigkeit, frühzeitig erwachsen zu werden. Für ersteres hatte ich genug Raum und das nötige Vertrauen in meine Fähigkeiten. Wie ich es entwickeln konnte, kannst du unter anderem hier nachlesen. Auf den zweiten Aspekt hätte ich durchaus liebend gerne verzichten können. Nicht zuletzt, weil es meiner Entwicklung – entgegen der gängigen Meinung, warum es unnötigerweise gerne forciert wird – durchaus im Wege stand. Es nahm mir die Leichtigkeit und ließ mich, dank falscher Glaubenssätze, den falschen Zielen hinterherlaufen, auch wenn ich stets erfolgreich war, in dem, was ich tat. Nur hatte ich auch von dem, was Erfolg bedeutet, eine vollkommen andere Vorstellung als heute. Mehr über meinen Transformationsprozess und der trasformatorischen Kraft der Elternschaft allgemein erfährst du zum Beispiel hier.

Fast alle Eltern wollen selbständige Kinder. Es scheint beinahe das wichtigste Erziehungsziel zu sein und Selbständigkeit der Schlüssel für ein erfolgreiches und erfülltes Leben. Kaum ein anderes Thema hat so viele Glaubenssätze inne und wird von selbigen angeleitet. Das Kind soll möglichst früh möglichst viel alleine können, schließlich muss es das im Kindergarten, der Schule, im Job usw. ja auch. So jedenfalls die gängige Argumentation, wenn es ums „aber es muss doch auch mal xyz alleine tun können!“ geht.

Viele Eltern beginnen früh sich zu fragen, ab wann sich wohl ein Kind alleine beschäftigen kann, über wie viele Minuten dies wohl möglich sei und ab wann sie dies sogar erwarten könnten. Das Thema betrifft beinahe alles, was ein Mensch im Laufe seiner Kindheit lernt. Es beginnt bei Vielen beim angeblichen Schlafenlernen, geht über zum selbständigen Laufenkönnen, hin zu den Ausscheidungsprozessen, dem selbständigen Anziehen und letztlich zum selbständigen Gang in die Schule.

Um all das zu erreichen, wird gerne empfohlen, „Kinder möglichst viel selber machen zu lassen“ und „Kindern so wenig wie möglich abzunehmen“. Empfehlungen, die oft – aus einer erzieherischen Brille heraus – missverstanden werden. Um Kinder zur Selbständigkeit zu erziehen, soll von ihnen außerdem auch durchaus etwas erwartet sowie verlangt werden und vor allem mit Lob sowie Ermutigungen möglichst nicht gegeizt werden. Wie belastend all das für eine Beziehung und für die kindliche Entwicklung sein kann, wie viel unnötiger Druck und Gegendruck dadurch entsteht, wird dabei vollkommen außer Acht gelassen. Und auch, dass Lob letztlich nur die andere Seite der Medaille von Strafen ist, scheint noch immer nicht überall angekommen zu sein. Darum soll es aber an dieser Stelle nicht gehen.

Das Problem mit der „Erziehung zur Selbständigkeit“ hat zwei Gesichter:

1. Wir stellen uns der Selbständigkeit unserer Kinder ständig in den Weg

Wir wissen oft nicht, so scheint es, was wir wollen. Einerseits wollen wir, dass unsere Kinder unabhängig werden und es gar bereits sind, lassen sie aber zugleich viele Dinge nicht machen, trauen es ihnen nicht zu und haben einfach kein Vertrauen in ihre Fähigkeiten.

Das betrifft beinahe jede Facette des alltäglichen Lebens mit Kindern. Es geht um Selbstbestimmung und Selbstregulation. Darum, wann und wie ein Kind ins Bett geht, ob es mit digitalen Medien umgehen darf, ob es eine Jacke trägt oder nicht, wann, wie viel und ob es auch mal naschen darf, wie viel an „Grenze setzen“ notwendig ist, usw. Zu all diesen Themen habe ich bereits verschiedene Artikel geschrieben, die du hinter den jeweiligen Schlagwörtern verlinkt siehst.

Quintessenz aber ist: Kinder können eine ganze Menge von Anfang an selber machen, dies gestehen wir ihnen aber nicht zu. So meldet sich selbst ein Säugling mit Zuverlässigkeit, um seine Bedürfnisse anzumelden: Hunger, Pippi, müde, zu kalt, zu warm, Nähe, Geborgenheit, Unterhaltung, usw. Aber wir antworten mit Schlaflernprogrammen und Töpfchen-Training. Oder das dreijährige Kind, welches bei kühlem Wetter keine Jacke tragen möchte, weil es ihm dennoch zu warm ist und wir ihm diese aber trotzdem aufzwingen, weil es uns ja schließlich kalt ist.

Und irgendwann wollen sie vieles selber machen. Spätestens in der Autonomiephase ist „Alleine“ für viele Kinder das absolute Lieblingswort. Und was machen wir? Nun sollen sie nicht unabhängig, sondern schnell sein und möglichst perfekt noch dazu. „Komm beeil dich!“, „Nee, lass mal, das dauert zu lange!“, „Du kleckerst! Sei vorsichtig“, „Pass doch mal auf, Mensch!“, „Lass mich das machen.“ ertönt es dann von überall her. Wie nachhaltig die dadurch gebildeten inneren Botschaften wirken, kannst du hier lesen.

Wir lassen ihnen also keinen Raum zum Üben und haben nicht selten überhöhte Erwartungen. Aber genau das ist mit „Kinder möglichst viel selber machen lassen“ und „Kindern so wenig wie möglich abnehmen“ gemeint: Ihnen und ihren Fähigkeiten vertrauen und Raum zum Üben geben, immer dann, wenn sie es auch wollen und können. Es geht hierbei um einen sicheren Rahmen, der den Kindern eine selbstbestimmte Entwicklung ermöglicht. Damit ist NICHT gemeint, Dinge zu antizipieren, zu erwarten oder frühzeitig und ohne Rücksicht auf den natürlichen Entwicklungsprozess sowie ohne jegliche tatsächliche Notwendigkeit abzuverlangen. Vor allem ist damit nicht gemeint, ihnen Hilfe zu verwehren. Auch dann nicht, wenn sie bestimmte Dinge schon sicher können und mit ihrer Frage nach Hilfe und Unterstützung nach einem Zeichen der Liebe fragen.

Wir stehen hier der Selbständigkeit unserer Kinder also doppelt im Weg: erstens indem wir ihnen ihre Selbstbestimmung und Fähigkeit zur Selbstregulation aberkennen und zweitens weil wir ihnen mit unserer Ungeduld und erzieherischen Anspruchshaltung keinen Raum zum Üben lassen.

2. Wir verbinden die Selbständigkeit unserer Kinder mit „mehr Raum für uns“

Seien wir mal ehrlich, Kinder im Leben zu begleiten ist mitunter ziemlich anstrengend. Daher ist jeder selbständige Schritt unserer Kinder gleichbedeutend mit mehr Ruhe und Entspannung für uns Eltern. Das jedenfalls wünschen wir uns nicht gerade selten im Alltag. Wenn sich unsere Kinder am Morgen selbständig anziehen, können wir ein klein wenig länger im Bett liegen bleiben oder auch einfach mal pünktlich und ohne Stress aus dem Haus. Wenn sie selbständig ins Bett gehen, können wir uns am Abend ein wenig vom anstrengenden Tag erholen, neue Kraft tanken und uns unseren PartnerInnen oder gar Hobbys widmen…

Das Problem ist, wir machen uns hier etwas vor, denn das hat rein gar nichts mit Selbständigkeit zu tun. Vielmehr ist es – wie so oft – unser verzweifelter Versuch, unsere legitimen Bedürfnisse nach Ruhe, Entspannung und Erholung über unsere Kinder zu erfüllen und ihnen die Last der Verantwortung aufzubürden. Wir wollen – auch mal endlich – unseren Dingen nachgehen, mal gemütlich im Internet chatten und einfach mal – fünf Minütchen – nicht gestört werden. Währenddessen sollen unsere Kinder alleine spielen, sich fertigmachen, Zähneputzen, usw. Das hat allerdings mit Selbständigkeit nichts zu tun. Das wäre verdammt bequem und deutlich einfacher für uns, bedeutet aber nicht, dass das Kind dann unabhängig und autonom ist und noch viel weniger, dass wir es auf diese Art dahingehend erziehen können. Ich weiß, das ist hart, aber für mich ist das emotionale Verwahrlosung unter dem Deckmantel der Erziehung.

Kinder gesund (!) in die Selbständigkeit zu begleiten, bedeutet deutlich mehr Arbeit

Deswegen boykottieren wir es auch so oft. Autonome Kinder brauchen unsere Zuwendung, Anwesenheit und viel von unserer Zeit für die Auseinandersetzung miteinander, mit der Umgebung und dem Leben an sich. Und ja, das ist verdammt nochmal auch anstrengend. Sehr sogar. Vor allem dann, wenn wir uns noch mit uns selbst auseinandersetzen müssen, im Widerstand stecken oder einfach feststellen müssen, dass wir unser Leben so wie bisher nicht weiterführen können, wenn wir uns auf eine bedürfnisorientierte Elternschaft einlassen wollen. Mehr dazu, findest du hier.

Die gute Nachricht dabei ist, dass es eine große Chance zur Entschleunigung ist und eine Chance, sich erneut mit sich selbst zu verbinden. Wie tiefgreifend der Prozess sein kann, zeigt sich auf vielen Ebenen. Nicht ohne Grund geraten sehr viele Eltern in Widerstand, werden wütend und denken, für solch eine Beziehung zum Kind müsse man sich selbst aufgeben und die eigenen Bedürfnisse unberücksichtigt lassen. Das allerdings wäre die berühmte Opfer-Rolle, dabei geht es genau um das Gegenteil, nämlich um die Übernahme von Verantwortung und nicht zuletzt um eine gänzlich neue und sehr bereichernde Beziehungsqualität zum Kind.

Wir berücksichtigen viel zu selten die entwicklungsbedingten Fähigkeiten unserer Kinder, erwarten eine Pseudo-Unabhängigkeit, wenn sie nicht so weit sind, schieben sie von uns weg, wenn sie uns am dringlichsten brauchen und geben ihnen auch keinen Raum zum Üben, erwarten aber zugleich Perfektion. Daneben hindern wir sie daran, Dinge zu tun, die sie könnten. Sie sollen also können, was sie nicht können können (Durchschlafen zum Beispiel) und dürfen nicht machen, was sie tun könnten (entsprechend begleitet, zum Beispiel alleine entscheiden, ob sie eine Jacke benötigen oder nicht).

Wie können wir aber den Unabhängigkeitsprozess unserer Kinder unterstützen?

  • Durch Zuhören und durch unsere Präsenz! Wie gut kennst du dein Kind wirklich? Wie wohlwollend und neugierig bist du in der Begegnung mit deinem Kind? Wie sehr bist du im Hier und Jetzt? Oder lässt du euer Miteinander von irgendwelchen Erziehungsmethoden und Allgemeinplätzen diktieren?
  • Wenn das Kind selber machen will, können wir schauen, ob und wie wir es zulassen können! Ist es wirklich so schlimm, wenn nach dem gemeinsamen Kochen die Küche erst einmal geputzt werden muss (womöglich sogar gemeinsam?), das Kind dafür aber nicht nur eine ganze Menge für sich erschließen konnte, sondern sich auch noch wertgeschätzt und geliebt fühlt?
  • Vertrauen lernen und eine vorbereitete Umgebung schaffen, die einen sicheren Rahmen für eine selbstbestimmte Entwicklung ermöglicht. Es geht nicht darum, dein Kind sich selbst zu überlassen, sondern darum, sich nicht in Zukunftsszenarien zu verlieren und statt in Angst, in der Liebe zu leben.
  • Kreativ sein, allgemein an uns arbeiten und beginnen, nicht mehr in Boxen zu denken. Es ist nie zu spät für einen NeuanfangDurch die zunehmende Selbständigkeit unserer Kinder wird unser Leben zunächst nicht bequemer und wir erhalten dadurch auch nicht mehr „Raum für uns“. Es bedeutet oft erst einmal viel mehr Arbeit, die Investition von deutlich mehr Zeit und die Fähigkeit, die Elternschaft mit allen Facetten selbstverantwortlich anzunehmen.

Der Prozess in die Selbständigkeit muss nicht anstrengend und qualvoll für alle Beteiligten sein. Er kann in Verbindung zueinander und in Achtsamkeit stattfinden und ist in meinen Augen auch erst dann wirklich nachhaltig. Ein Kind, welches leiden und weinen muss, um zu lernen, lernt selten das, was wir ihnen in dem Moment beibringen wollen. Es lernt viel mehr, dass es sich nicht auf uns verlassen kann und niemandem vertrauen darf. Und das steht der Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls, welches für ein autonomes Leben unabdingbar ist, massiv im Wege.

Saluditos & Axé

Aida S. de Rodriguez

 

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Foto von Alena Ozerova über Fotolia.

About The Author

Aida S. de Rodriguez

Aida ist Mutter eines Zwillingspärchens und eines ein Jahr jüngeren Sohnes. Ihre Kinder wachsen interkulturell, mehrsprachig sowie bedürfnisorientiert auf. Als Coach, Beraterin und Trainerin begleitet sie Menschen rund um die Themen Unerzogen, Selbstwirksamkeit, Transformationsprozesse und Diversity. Ihre Vision ist ein gleichwürdiges Miteinander aller Menschen. Dafür setzt sie sich für die Rechte von Kindern auf gewaltfreien Umgang sowie auf ein selbstbestimmtes Leben und Lernen ein.

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