„Ich lasse mein Kind nicht einfach über die Straße laufen!“ – die Sache mit der Verantwortung

Wenn ich in meine Artikel schreibe, dass ich meine Kinder weder zu etwas zwinge, noch bestrafe, gibt es meist zumindest ein Kommentar darauf, der mir deutlich zeigt, dass Adressat (Ich) und Empfänger (Leser) nicht gut aufeinander eingestimmt sind, aus unterschiedlichen Punkten auf das Geschriebene schauen und schlicht oft verschiedene Sprachen sprechen. Insbesondere, wenn es ums Zähneputzen, um die Schulpflicht oder um kindliche Aggressionen geht, ist die Empörung groß.

Vorweg, ich schreibe meine Texte für Menschen, die Kinder auf Augenhöhe begegnen wollen und die diese in ihre Gleichwürdigkeit anerkennen. Menschen, die für sich entschieden haben, Kinder gewaltfrei im Leben zu begleiten und die Bereitschaft mitbringen, sich zu reflektieren und an sich zu arbeiten. Menschen, die auf Erziehung aufmerksam gemacht werden wollen, um mit einem neuen Blick und einer neuen Sensibilität, eine bereichernde und verbindende Beziehung zu ihren Kindern und sich selbst zu führen. Ja, es geht um Menschen, die durchaus auch gänzliche neue Wege gehen würden, um im Einklang mit ihren eigenen Werten leben zu können.

Dabei ist es wichtig eines zu verstehen:



Zwischen Zwang und Vernachlässigung existiert eine vielfältige Welt zahlreicher, beziehungs- und bedürfnisorientierter Möglichkeiten, um Kinder im Leben zu begleiten.

Da, wo Erziehung aufhört, hat Beziehung Platz!

Kinder sollen nicht in ein Vakuum aus „Nichts“ entlassen werden. Ganz im Gegenteil! Es geht darum sich wahrhaftig für sie zu interessieren!



In Beziehung zu sein, bedeutet sich neugierig auf das Gegenüber einzulassen!

Es ist der Wille, die andere Person wahrhaftig kennenzulernen und sich selbst in seinem Sein vorzustellen. Beziehungen sind keine Einbahnstraßen. Es geht um alle daran beteiligten Individuen. Kinder wollen ihre Eltern kennenlernen und suchen ständig nach ihnen. Nicht selten wird diese Suche, mit einer Suche nach Grenzen verwechselt und mit eben diesen geantwortet. Dabei suchen Kinder Verbindung und keine Trennung.

Menschen wollen wertgeschätzt werden, weil sie sind. Unser Mensch sein, ist unser aller gemeinsamer Nenner. Egal, wie groß oder klein, jung oder alt, wir alle wollen würde- und respektvoll behandelt werden. Das gilt für Erwachsene, wie Kinder. Anders als Erwachsenen jedoch, fehlt es Kindern an Lebenserfahrung und Reife. Sie sind im besonderen Maße auf uns und Respekt angewiesen.

Ich werde nicht müde zu erklären, dass Respekt Rücksicht und Berücksichtigung bedeutet. Wir Erwachsene sind in der Lage Rücksicht auf die kindliche Entwicklung zu nehmen und sie mit ihren Bedürfnissen zu berücksichtigen. Das können Kinder, aufgrund ihrer vollkommenen Abhängigkeit und fehlender Reife, zunächst nicht. Genau hier, sind wir als Vorbild gefragt, denn Kinder lernen durch Erfahrung!



Menschen, die wir lieben, schützen wir!

Wir wollen, dass es ihnen gut geht. Liebe ist bedingungslos. Bedingungslosigkeit jedoch bedingt zwei Dinge: Annahme und Loslassen. Anzunehmen, was ist und wer die Menschen um uns sind – so auch unsere Kinder, die nun einmal so sind, wie sie sind – sowie Loslassen von liebgewonnenen und altbewährten Strategien, Handlungsmustern und Glaubenssätze, die unsere Beziehungen bis dahin prägten und unser Verhalten leiteten. Erst dann können wir unsere Kinder in Liebe, gewaltfrei schützen.

Schutz, Wertschätzung, Liebe, Respekt, Beziehung. All das, gehört und geht zusammen. Ich kann meine Kinder davor schützen über die befahrene Straße zu laufen und sie dabei dennoch respektvoll behandeln. Ich kann meine Kinder gewaltfrei im Leben begleiten und sie gerade deshalb adäquat schützen! Ich zwinge meine Kinder nicht zum Zähneputzen und trotzdem achte ich auf ihre Gesundheit. Ich zwinge sie nicht in die Schule und dennoch ist mir Bildung ein hohes Gut. Ich bestraffe sie nicht, wenn sie körperlich aggressiv werden, dennoch schütze ich andere davor und helfe meinen Kindern sich anders zu artikulieren.



Auf Gewalt zu verzichten, bedeutet nicht, die Verantwortung an Kindern abzugeben. Es bedeutet seine Verantwortung wahrhaftig wahrzunehmen!

Als meine Kinder noch klein waren und dazu neigten einfach loszulaufen, so war es in meiner Verantwortung sie davon abzuhalten einfach auf die befahrene Straße zu laufen. Darüber dürfen wir uns alle einig sein. Das Beispiel kommt jedenfalls reichlich oft und gerne. 😉



Ich als Mutter* bin dafür verantwortlich meine Kinder im Straßenverkehr zu schützen!

Die Frage aber ist, wie nehme ich diese Verantwortung wahr? Durch Erziehung oder in Beziehung? Wie sieht es wirklich aus, wenn wir in der Verantwortung bleiben?

Wenn ich ein zweijähriges Kind habe, dann kann ich nicht erwarten, dass es versteht und vor allem auch sich selbständig daran erinnert, dass eine befahrene Straße gefährlich sein kann und es wichtig ist auf dem Verkehr zu achten, bevor wir diese überqueren. Das ist deutlich komplexer als viele meinen, denn in der Regel läuft das Kind doch sehr regelmäßig über die Straße, zum Beispiel über eine Ampel oder aber nachdem die Eltern sich vergewissert haben, dass keine Gefahr von Links und Rechts droht. Nun soll das Kind, in der Blüte der Autonomiephase – „ich kann alleine!“ – verstehen, dass die Straße ausgerechnet dann, wenn es alleine probieren möchte, gefährlich ist.

Um hier in der Verantwortung zu bleiben, ist es unsere Pflicht aufmerksam zu sein und nah dran zu begleiten. Wir geben unsere Verantwortung immer dann ab, wenn wir erwarten, dass unsere Kinder unsere Anweisungen folgeleisten und sie ausschimpfen oder gar bestrafen, wenn es dann doch nicht eintritt. Wir sind Erwachsene und in der Lage ihre Entwicklung zu berücksichtigen. Ca. 2 bis 4-jährige Kinder benötigen im Straßenverkehr in der Regel eine sehr aufmerksame Begleitung. Sie benötigen diese auch dann, wenn es sonst immer „geklappt“ hat. Wir können es weder voraussetzen, noch erwarten, sondern sind in der Pflicht zur Rücksichtnahme!

Anders als gerne vermutet oder gar behauptet, sind wir in Beziehung im besonderen Maße in der Verantwortung. Wir wissen, dass wir Erwachsene diejenige sind, die hier – trotz aller Erklärungen – aufpassen müssen. Erziehen wir Kinder hingegen, ist unsere Haltung oft von Erwartungen geprägt. Wir erwarten ein bestimmtes Verhalten als Ergebnis unserer Erziehung. Bleibt dieses aus, so gibt es „Konsequenzen“ für das Kind.



Damit trägt am Ende alleine das Kind die Verantwortung für unsere Enttäuschung aufgrund unserer überhöhten Erwartungen!

Wir wohnen Mitten in der Hauptstadt:

Als meine Kinder noch kleiner waren, gab es eine Zeit, da konnte ich dieser Verantwortung in gewohnter Manier nicht gerecht werden. Ich hatte drei kleine Kinder zeitgleich in der Autonomiephase und es war schier unmöglich alle drei zeitgleich aufmerksam entlang der Straße zu begleiten. Es war stressig und Stress ist kein guter Ratgeber in Beziehungsfragen, aber auch nicht in Schutzangelegenheiten. Es musste eine Lösung her. Eine Lösung, die mir erlaubte meine Haltung zu leben, meine Kinder wirklich sicher zu begleiten, ohne mich in falscher Sicherheit zu wägen, in dem ich sie durch Erziehung in die Verantwortung ziehe.

Also blieb ich in meiner Verantwortung. Zum einem erkannte ich meine körperliche und mentale Grenze. Ich habe für den Notfall nicht genügend Hände und auch nicht genügend Augen. Daneben stresste mich, wie bereits erwähnt, die Situation ungemein. Meine gewohnte Strategie war also hinfällig. Die Strategie anderer Familien – Hand geben, Spielen, etc. – war mit meinen temperamentvollen Kindern und mit meinem unruhigen Gemüt nicht realisierbar. Zumindest einer, hatte andere Vorstellungen und die Situation konnte schnell kippen. Meine Kinder im Kinderwagen anzuschnallen, war keine Option, denn sie wollten laufen und ich wollte sie nicht zwingen. Ich erkannte also, dass es für mich nur zwei gewaltfreie Optionen gab:



Vermeidung oder eine kreative Alternative!

So nutzen wir im Winter öfters das Auto direkt aus der Garage heraus oder aber blieben öfters Zuhause. Ich vermied es alleine mit ihnen an der Straße entlang zu laufen, denn ich konnte ihre Sicherheit alleine und im Einklang mit meiner gewaltfreien Haltung nicht gewährleisten.

Anders sah es aus, wenn eine zweite erwachsene Person dabei war. Da konnten wir problemlos unterwegs sein. Doch ist dies nicht immer gegeben und gerade im Frühjahr oder Sommer wollten wir wieder öfters ganz spontan raus und unterwegs sein. Meine Kreativität war also gefragt und ich fand für uns eine tolle Lösung, die unser ständiger Begleiter werden sollte: ein faltbarer Bollerwagen. Alle drei Kinder fanden es total spannend und hatten gemeinsam darauf Platz. Manchmal zogen zwei das dritte Geschwisterchen, oder aber einer schob, während ich zog. Es kam auch mal vor, dass einer laufen wollte oder auch zwei, aber die Situation skalierte nicht, denn es gab eine frei-wählbare, spannende Alternative für die Kinder sobald sie zum Beispiel müde waren und ich konnte im Notfall die Kinder schnell und sicher auf den Bollerwagen setzen und einem weiteren Kind hinterherlaufen.

Im Verlauf ihres fünften Lebensjahres passierte etwas in ihrer Entwicklung und meine Kinder hielten ganz selbstverständlich und vor allem bewusst (!) am Straßenrand an. Sie begannen von alleine nach Links und Rechts zu schauen und nahmen in unübersichtlichen Situationen von sich aus meine Hand. Bei meinen sechsjährigen Zwillingen mache ich mir nun weniger Sorgen und kann mich tatsächlich darauf verlassen, dass sie in der Regel nicht einfach auf die Straße laufen werden. Sie haben ein Bewusstsein dafür entwickelt. Ohne Zwang, Strafen, „Konsequenzen“, Ängste zu schüren oder schimpfen. Einfach durchs Vorleben und aufklären, immer dann, wenn es gerade ein Thema war. Sie werden auch dann am Straßenrand anhalten, wenn ich nicht in der Nähe bin, denn sie haben die komplexe Zusammenhänge Rund um Straße in dem für sie möglichen Umfang erschlossen. Sie halten nicht aus Angst vor mir an, sondern aus einem tiefen Verständnis heraus!

Auch mein 4,5jährige hat nun einen bewussteren Umgang und dennoch passiert es ihm in seinem stürmischen Gemüt, nicht zuletzt auch „altersbedingt“, dass er es vergisst. Hier liegt es an mir dies bewusst zu haben und dieses Kind in seiner Individualität zu respektieren und begleiten. Es liegt an mir nach kreativen Lösungen zu suchen, um in der Verantwortung zu bleiben. Der Verzicht auf Gewalt ist Teil dieser bewussten Verantwortungsübernahme!

Beziehung statt Erziehung heißt also in der Verantwortung zu bleiben und in eben dieser unsere Kinder zu schützen. Es ist in meinen Augen unsere Pflicht nach Wegen ohne Zwang und Strafen zu suchen. Erst auf diese Weise können Kinder wahrlich gewaltfrei aufwachsen.

Eure

Aida

 

*und alle anderen begleitenden Erwachsenen.

 

 

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Foto von BestForYou, bei Fotolia.

About The Author

Aida S. de Rodriguez

Aida ist Mutter eines Zwillingspärchens und eines ein Jahr jüngeren Sohnes. Ihre Kinder wachsen interkulturell, mehrsprachig sowie bedürfnisorientiert auf. Als Coach, Beraterin und Trainerin begleitet sie Menschen rund um die Themen Unerzogen, Selbstwirksamkeit, Transformationsprozesse und Diversity. Ihre Vision ist ein gleichwürdiges Miteinander aller Menschen. Dafür setzt sie sich für die Rechte von Kindern auf gewaltfreien Umgang sowie auf ein selbstbestimmtes Leben und Lernen ein.

8 Comments

  • Alena

    Reply Reply 16. April 2017

    Wieder ein ganz wunderbar und sehr bildlich geschriebener Artikel liebe Aida.
    Du triffst es auf den Punkt, einfach klar und deutlich.
    Danke dafür.

    • Aida S. de Rodriguez

      Reply Reply 31. Juli 2017

      Vielen Dank, liebe Alena! 🙂

  • Wibke Dihrberg

    Reply Reply 17. April 2017

    Liebe Aida
    Ich mag Deine differenzierten Betrachtungen! Das ist wunderbar! Aufmerksam auf die Kinder zu schauen und altersgerecht zu entscheiden, was wie gehen kann, ohne dass man Gewalt oder Zwang anwenden „muss“, ist genau die Herangehensweise, die ich immer wieder empfehle, betone, herausstelle.
    Denn das wollen im Grunde alle Eltern: ihre geliebten Kinder schützen und für sie sorgen.
    Zwang, Gewalt, Erziehungsmethoden, das sind alles Dinge aus der Not heraus, weil sich Eltern nciht anders zu helfen wissen und die eigentlich niemand will.
    „Es geht ja leider nicht anders“ höre ich dann. Doch, es geht anders, und das ist so toll!
    Die Bindung ist immer der Kontext für ein funktionierendes Zusammenleben. Daher bin ich so froh, diese Dynamiken endlich zu verstehn und das auch an andere Eltern weitergeben zu können.
    Viele Grüße
    Wibke

    • Aida S. de Rodriguez

      Reply Reply 31. Juli 2017

      Danke für dein Feedback, liebe Wibke! <3

  • Denise

    Reply Reply 11. März 2018

    Liebe Alina,

    Wie oft musste ich mir schon anhören, ich würde zu viel Verantwortung auf mein Kind übertragen oder ihm zu viele Entscheidungen überlassen, weil es ein mal in vielen Treffen nicht so reagiert, wie großteils Erziehende es von einem „sich zu fügenden, gehorsamen Kind“ erwarten oder auch nur ich nicht ihren Erwartungen gemäß reagierte, sondern verständnisvoll und in Beziehung blieb.
    Vielen Dank deshalb für das Argument, „Sanktionierung heißt, ich habe vorher bereits die Verantwortung übertragen“. Es wird mir sicher künftig helfen 🙂

    Lieben Gruß,

    Denise

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