Kaum ein Thema wird unter Eltern und interessierte Nicht-Eltern so polemisch und emotional diskutiert wie die Betreuung von Kleinkindern in Kindergärten. Es scheint nur zwei Seiten zu geben: Entweder bin ich für oder ich bin gegen Fremdbetreuung. Punkt.
Eltern, die ihre Kinder in den Kindergarten schicken, werden damit konfrontiert, ihre Kinder abzuschieben und die falschen Prioritäten zu setzen. Eltern, die ihre Kinder Zuhause betreuen, bekommen vorwurfsvoll gesagt, sie können es sich ja leisten oder alternativ, sie lägen der arbeitenden Bevölkerung auf der Tasche. Außerdem würden sie ihren Kindern wichtige soziale Erfahrungen verwehren. Auf der einen Seite steht die Karriere geile Rabenmutter und auf der anderen die faule und antiquierte Glucke. So wirklich gut kommt niemand dabei weg.
Und das Thema ist tatsächlich auch komplex. Wir haben hier nämlich mit gesellschaftlichem Wandel und einer strukturellen Problematik zu tun. Offenbar teilen viele Eltern miteinander eine große Unzufriedenheit und die Suche nach Anerkennung sowie Legitimation für den eigenen Weg. Sie fühlen sich kritisiert und verurteilt.
Wenn wir genau hinschauen, dann fällt uns schnell auf, dass die Frage nach der Betreuung nur eine von vielen ist, bei denen sich Eltern gegenseitig zu bekriegen scheinen. Das lässt die Vermutung zu, dass dies alles lauter Nebenschauplätze sind, die vom eigentlichen Thema ablenken, nämlich die Anerkennung der Leistung von Eltern sowie der Stellenwert von Kindern in der Gesellschaft. Und das ist genau das, was wir in Erziehung lernen: den eigenen Wert in Abgrenzung zu anderen zu betrachten. Wettbewerb anstatt Kooperation. Unser Blick auf das Verhalten anstatt den dahinterliegenden Bedürfnissen zu lenken.
Was bedeutet Fremdbetreuung überhaupt?
Es existieren zahlreiche Begriffe für die zuständigen Einrichtungen der Betreuung von Kindern außerhalb der Familie, die teilweise regional oder aber je nach Alter des Kindes und Art der Betreuung unterschiedlich benutzt werden. Es geht um den Ort, an den Kinder bis zur Einschulung durch staatlicher oder privater Initiative außer Haus und außerhalb der Familie betreut werden können.
Ich persönlich mag den Begriff „Fremdbetreuung“ nicht, denn genau das sollte es nicht sein: Eine Betreuung durch Fremde. Bei einer zwischenmenschlichen Begegnung lernen sich die beteiligten Personen langsam kennen. Und genau das würde ich bei einer Eingewöhnung, wie es so schön heißt, erwarten: Kind, Eltern und künftige Betreuer_innen lernen sich langsam kennen und das Kind entscheidet selbst, wann und ob (!) es Vertrauen gefasst hat und mit wem es sympathisiert oder nicht. Selbiges gilt natürlich für Eltern und Betreuer_innen.
Ja, mir ist bewusst, dass dies nicht unbedingt der tatsächlich flächendeckend gelebten Realität entspricht. In vielen Institutionen, so scheint es, vertritt man wohl noch die Ansicht, dass Kinder und Eltern es „auf die harte Tour“ lernen und auch im Widerstand und unter Tränen sich voneinander lösen müssen. Da werden Kinder in der Tat durch Fremde betreut und sie bleiben oft auch lange, wenn nicht gar bis zum Ende fremd. Wie in alten Zeiten werden Eltern und Kinder ins kalte Wasser geschmissen, entmündigt und müssen binnen kurzer Zeit mit der neuen Situation zurechtkommen. Dabei geht es eigentlich um eine Dienstleistung, die den Eltern das Leben leichter machen sollte und zugleich um die vermeintlich bestmögliche Betreuung und Pflege von Kindern.
Bedeutet dies nun, dass eine Betreuung im Kindergarten per se schädlich ist?
In der Tat lassen viele Kindergärten kaum eine andere Bewertung zu. Wie leider immer wieder Eltern berichten, sind die Betreuer_innen nicht nur im erzieherischen Sinne manchmal ziemlich übergriffig gegenüber den Kindern. Das lässt sich nicht leugnen und auch nicht schön reden. Gegen solche Missstände mache ich aufmerksam und versuche Eltern zu stärken, sich für ihre Kinder einzusetzen, solche Dinge zu melden und den Kindern eine Stimme zu geben sowie solche Orte gänzlich zu meiden.
Einige Fachkräfte sind sicherlich auch mal überfordert, nicht selten im Sinne der Bedürfnisorientierung und einer artgerechten Begleitung von Kindern schlecht qualifiziert und vor allem maßlos unterbezahlt. Darunter sind aber auch wundervolle Menschen, die ihre Arbeit lieben und den Kinder wahre Beziehung und Verbindung bieten. Ich selbst erlebe in der Einrichtung, die meine Kinder besuchen, in der Regel zugewandte, empathische und sehr um das Wohl der Kinder bemühte Menschen. Es ist ein Kindergarten mit offenem Konzept und einer Haltung, die die Menschenrechte und Würde des Kindes achtet sowie Rücksicht auf das Bestreben der Kinder nach Autonomie und Begleitung nimmt.
Es gibt durchaus positive Beispiele, aber auch unglaublich viel Verbesserungspotential.
In der Diskussion um die Betreuung von Kindern fällt oft das Argument, Kinder würden zu einer gesunden Entwicklung den Besuch eines Kindergartens benötigen. Dort würde ihnen etwas geboten werden, was Zuhause nicht möglich sei. Außerdem lernen sie dann Sozialverhalten, hätten andere Kinder zum Spielen und zu guter Letzt, müssen sie ja irgendwann in die Schule und sich daher bereits frühzeitig „daran“ gewöhnen.
Ist es aber tatsächlich so?
Brauchen Kinder per se einen Kindergarten?
Kindergärten sind notwendig und unabdingbar für viele Eltern, für unsere derzeitige Gesellschafts- und Wirtschaftsform, aber nicht per se für die Kinder. Diese brauchen keinen Kindergarten für eine gesunde Entwicklung. Manchmal mag ein Kindergarten eine bessere Alternative bzw. Umgebung für eine gesunde Entwicklung des Kindes sein. Ein ebenfalls gern genommenes Argument, welches auch seine Berechtigung hat und in meinen Augen deutlich mehr Aufmerksamkeit verdient als es in der aktuellen Diskussion der Fall ist. Es ist allerdings kein Argument, welches darlegt, warum Kinder per se im Kindergarten besser aufgehoben sind.
In der Diskussion darum wird gerne über Chancengleichheit für Kinder aus sozial schwachen oder „problematischen“ Familien gesprochen. Ein wichtiges, aber oft fadenscheiniges Thema. Es scheint beinahe so als wäre dies ein Massenphänomen in der Bundesrepublik. Als Mutter von Kindern, die Zuhause nicht primär Deutsch sprechen, kenne ich das Thema nur zu gut. Da ist es vollkommen irrelevant, dass die Eltern Akademiker sind, die Kinder dreisprachig aufwachsen, was in anderen Zusammenhängen gerne als „Wettbewerbsvorteil“ genannt wird, und allgemein ziemlich privilegiert im Leben stehen. Sie haben einen Migrationshintergrund und somit einen besonderen Förderbedarf.
Zu wenig Raum findet hingegen das für mich deutlich alarmierende Thema: unsere gegenwärtige Gesellschaft lässt den Familien gefühlt kaum eine Alternative zur Betreuung außer Haus. Echte Chancengleichheit und Entscheidungsfreiheit existiert nicht. Erwachsene sollen sich bei der Jobsuche flexibel zeigen, was oft dazu führt, dass sie weit weg von ihren Ursprungsfamilien ziehen. Kommen dann irgendwann Kinder dazu, können sie nicht auf familiäre Unterstützung zurückgreifen. So ist es zum Beispiel bei uns.
Hinzu kommt, dass immer häufiger beide Eltern arbeiten müssen, um eine Familie ernähren zu können. Und das Ganze hat System, schließlich fehlen unserer Wirtschaft qualifizierte Arbeitskräfte und man ist nicht bereit aufgrund von Kinderbetreuung langfristig auf diese zu verzichten. Viele Eltern fühlen sich währenddessen im Hamsterrad gefangen und sehen sich auf Betreuung angewiesen. Diese Abhängigkeitsbeziehung zeigt sich leider oft in der Qualität der Betreuungseinrichtungen.
Gerade als Frau, die bis vor Kurzem als Hauptverdienerin Vollzeit in einem Angestelltenverhältnis beschäftigt war und ohne Familie auf weiter Ferne, kann ich dies sehr gut nachempfinden. Ich glaube an Wahlfreiheit. Allerdings werden Kinder dabei nicht berücksichtigt. Auch das durfte ich als Mutter erleben und das ist einer der Gründe, warum ich mein Leben auf dem Kopf gestellt habe und neue Wege gehe. Dies tun immer mehr Eltern. Sie sind, so wie ich, nicht bereit auf Kosten ihrer Kinder weiter im System zu funktionieren.
Es bleibt am Ende die Frage danach welchen Stellenwert die Elternschaft in unsere Gesellschaft hat…
Wird im Kindergarten den Kindern etwas geboten, was ihnen Zuhause nicht geboten werden kann?
Dieser Annahme liegen verschiedene Glaubenssätze zugrunde. Ich hatte sie auch. Zum einem, dass Kinder in irgend einer Weise ein spezielles Programm und dauernde Unterhaltung benötigen. Zum anderem zeigt sich hier bereits sehr deutlich unsere Leistungsgesellschaft wieder, denn in der Regel geht es bei diesem Argument darum, dass Kinder bestimmte Dinge fürs Leben lernen müssen, um später keinen „Wettbewerbsnachteil“ gegenüber anderen Kindern zu haben.
Kleine Kinder wollen wie jeder anderer Mensch auch, wertvoll sein. Für die Familie, für die Gesellschaft. Anerkennung ist ein Bedürfnis aller Menschen. Im Falle von Kindern bedeutet das, dass sie Zuhause im Leben ihrer Familien einen festen Platz haben wollen, in den sie sich im Alltag einbringen können. Sie beobachten ihre Eltern und andere nahe stehenden Bezugspersonen und ahmen diese nach. Sie lernen so das Leben kennen und ihren Platz in der Familie.
Wir Menschen sind intrinsisch motivierte Wesen und selbst daran bestrebt, uns unsere Welt zu erschließen. Kleine Kinder sind außerdem von Natur aus neugierig, wissbegierig, offen und haben eine Menge Energie. Sie wollen erleben, erfahren, ausprobieren, entdecken und erforschen. Dafür brauchen sie Raum, Begegnung und Beziehung. Sicherlich aber kein spezielles Programm und auch keine Lernziele.
Die Frage, die wir uns Eltern hier stellen müssen ist: kann ich in meiner gegenwärtigen Situation meinen Kindern Raum geben, ihnen Begegnungen ermöglichen und in Beziehung treten? Und hier kann die Antwort nur höchst individuell ausfallen.
Es gibt durchaus sehr schöne, bedürfnisorientierte Einrichtungen, die für die Kinder ebenfalls eine Bereicherung darstellen können. Es ist in meinen Augen sehr wichtig immer den gesamten Lebenskontext zu betrachten und ich kann aus eigener schmerzlicher Erfahrung sagen, dass es wirklich gut ist, dass es wenigstens ein bezahltes Netzwerk und Unterstützung für Familien gibt.
Brauchen Kinder andere Kinder zum Spielen?
Das ist ein ganz schön hartnäckiger Sozialisierungsmythos. Wer sich aber die Zeit nimmt und im Kindergarten ein wenig genauer hinschaut, wird erkennen, dass viele Kinder bis zu einem bestimmten Alter, vor allem in Altersspezifischen Gruppen, in der Regel nebeneinander und nicht miteinander spielen. Dies ändert sich oft erst mit 3 – 4 Jahren.
Natürlich sind Kinder unterschiedlich und das eine signalisiert früher, das andere später, dass es diesen sozialen Kontakt benötigt und sich wünscht. In der Realität aber sieht man häufig auch sehr gestresste kleine Kinder, die dies auf ihre Art sehr deutlich kommunizieren. Zum Beispiel durch Aggressionen, gesundheitlichen Auffälligkeiten, Schlafprobleme oder kompletten emotionalen Rückzug. Leider werden sie mindestens genauso oft missverstanden, ignoriert und gar diagnostiziert.
Zu große Gruppen, zu viele Pflichten und zu viel Fremdbestimmung sowie zu wenig Raum für freies spielen und lernen bestimmen den Alltag vieler Kinder. Hinzu kommt die Gefahr der Gleichaltrigenorientierung, wie Gordon Neufeld es nennt, wenn auf zu vielen Kleinkindern zu wenige Erwachsene Bezugspersonen kommen. Es ist wichtig, dass hingeschaut wird! Es geht aber auch anders.
Zwei meiner drei Kindern gehen zum Beispiel sehr gerne in den Kindergarten. Vor allem meine Tochter liebt es dort mit ihren Freundinnen zusammen zu kommen. Und das brauchte sie schon sehr früh und hat es konkret eingefordert. Eines meiner Kinder hingegen bevorzugt beinahe immer Zuhause zu sein. Auch wenn es vor Ort durchaus dann Spaß hat und seine Freunde mag, es braucht es nicht und könnte ohne Probleme, wenn nicht gar liebend gerne darauf verzichten. Und das ist schon wieder ein weiteres Thema: es fehlen Begegnungsräume für Familien und Kinder.
Müssen Kinder in den Kindergarten, um auf die Schule vorbereitet zu werden?
Die beste Vorbereitung auf das Leben und ihren Herausforderungen sind eine gute Bindung zu den Hauptbezugspersonen und stabile Beziehungen im Leben des Kindes. In diesem Sinne kann der Besuch eines Kindergartens dem gegenüberstehen. Zugleich ist jedes Kind anders und die Betreuung im Kindergarten kann ein großer Zugewinn für die gesamte Familie darstellen. Ich hätte weder darauf verzichten können, noch wollen.
Ein per se richtig oder falsch gibt es hier nicht. Es hängt von der individuellen Situation und dem Lebenskontext der jeweiligen Familie ab. Meine bleiben auf Wunsch auch mal Zuhause, gehen erst am Nachmittag oder nur bis zum frühen Nachmittag hin. Mit Sicherheit keine gewöhnliche und zugleich eine sehr privilegierte Situation. Aber nur so sehe ich auch den Mehrwert für unsere (!) Familie.
Die Mehrzahl der Eltern scheinen verunsichert, wenn es um die Betreuung ihrer Kinder geht. Die Situation ist oft für alle belastend, aber am allermeisten für die Kinder. Sie haben keine Lobby und sind darauf angewiesen, dass andere für sie ihre Stimmen erheben und sich einsetzen. Hier ist unsere Aufmerksamkeit und Achtsamkeit ganz besonders gefragt.
Ich glaube allerdings, wir tun niemanden einen Gefallen, wenn wir das Lager in für und gegen „Fremdbetreuung“ zerlegen. Viel mehr sollten wir schauen, was Familien und Kinder benötigten und wie man ihnen ganz individuell gerecht werden kann. Solange aber Eltern sich für ihre individuelle Entscheidung erklären müssen, wird es hier sehr schwer auf die unterschiedlichen Bedürfnisse einzugehen und den Fokus auf das große Ganze zu richten.
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Aida S. de Rodriguez
7 Comments
Maraike
21. Juni 2016Sehr schön geschrieben und sehr respektvoll Mythen entkräftet ohne eine „seite“ bloß zu stellen. Das muss man erstmal schaffen 🙂 wir haben kiga, obwohl ich das eigentlich nie wollte „probiert“. War kein volltreffer. Aber bedürfnisorientiert wurde eine liebgewonnene Gewohnheit für Sohn draus: 2x die woche, 4h. Danke unserem kiga, der das mitmacht….. inzwischen „bucht“ er sich schonmal Tage hinzu – und ist immer herzlich willkommen dort. Er aber darf nach wie vor entscheiden, was genug oder zuviel ist.
Jennifer Hartmann
21. Juni 2016Danke für den Artikel. Ich sehe die Betreuung von U3 Kindern in großen Einrichtungen sehr kritisch. Leider wird meist nicht mal erwähnt, dass für die Betreuung Betreuung auch Tagesmütter (Kindertagespflegepersonen) in Frage kommen. Wir haben die Möglichkeit beide Betreuungsformen, die der Familie und die der Kita, zu vereinbaren. Die Kinder werden in einem geborgenen Umfeld in einer kleinen Gruppe betreut und haben andere Kinder zum „spielen“. Ziemlich perfekt sage ich als ehemalige Krippenerzieherin, Tagesmutter und Mutter zweier Jungs.
Linda
21. Juni 2016Liebe Aida!
Danke für diesen wunderbaren Artikel, der das Thema von allen Seiten beleuchtet.
Lg, Linda
A Bullerbü Life
21. Juni 2016Danke für diesen sehr komplexen und differenzierten Artikel! So intensive und ausgewogene Gedanken werden leider gar nicht so oft geteilt.
Bine
26. Juni 2016Liebe Aida!
Danke für diesen wunderbaren Artikel. Er hat uns in der Entscheidungsfindung sehr unterstützt, unser Sohn wird erstmal nicht in den Kindergarten gehen. Es fühlt sich noch nicht richtig an.
Liebe Grüße
Bine
[…] so lang wie möglich für den Beruf freizustellen (EDIT: hierzu noch schnell den Blog-Artikel Kindergärten: (k)ein Ort für Kinder!? nachgereicht, den ich frisch entdeckt habe. Kritisch und vollständig, wie ich finde.). Und da sind […]
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