Das freiwillige soziale Jahr nach dem Abitur, das Auslandspraktikum oder -semester während des Studiums, ein Jahr als AuPair in Übersee, die Weltreise bevor der erste Job beginnt oder das Jahr Sabbatical um die Welt. Alles unglaublich gute Gründe seine Komfortzone zu verlassen. Reichlich beschenkt mit spannenden Erfahrungen, die uns einen ersten Einblick in andere Länder und Kulturen ermöglicht, kommen die meisten nach einigen Monaten in der Regel zurück. Vor allem aber erleben viele diese Zeit als unglaublichen Entwicklungsschub. Man wird selbständiger, selbstsicherer und begegnet anderen Menschen mit mehr Offenheit als zuvor. Neue Bekanntschaften und kommunikativen Fähigkeiten kommen noch dazu.
Manche Menschen gehen sogar noch ein Schritt weiter und verbringen ihr gesamtes Studium im Ausland oder aber werden von einem Unternehmen für mehrere Jahre als „Expatriate“ ins Ausland entsandt. Nicht selten werden sie in dieser Zeit von ihren PartnerInnen und Kindern begleitet. Viele erleben diese Etappe als unglaublich bereichernd und bleiben ein Leben lang mit ihrer dazugewonnenen Heimat verbunden.
Wenn Menschen sich von ihren inneren Ketten befreien, bekommen sie oft Lust die Welt zu entdecken.
Sie machen sich auf den Weg zu einer Weltreise oder wandern gleich aus. Sie haben womöglich im Rahmen vergangener Aufenthalte tiefe Verbindungen zu Land und Leute geknüpft oder sind sogar eine binationalen Beziehung eingegangen. Sie sind vielleicht die Kinder binationaler Verbindungen und wollen ihre Wurzeln auf die Spur kommen. Andere wiederum entscheiden sich völlig ungebunden, Zeit- und Ortsunabhängig zu leben und zu arbeiten. Dank des Internets können sie überall da bleiben, wo es ihnen gerade gefällt.
Manchmal ist der Grund einer Auswanderung ein völlig anderer. Es ist auf der einen Seite der Traum, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, auf der anderen Seite aber auch das Entkommen aus Zwängen, wie der Schulpflicht, die vor allem junge Familien diesen Schritt gehen lässt. Es gibt viele Gründe seine Heimat temporär oder auch langfristig zu verlassen. Einige dieser Gründe sind regelrechte Tragödien. Die Medien berichten täglich davon: Krieg, Armut und Elend…
Es gibt verschiedene Push- und Pull-Faktoren, die dazu führen, dass Menschen migrieren.
Die Entscheidung das eigene Land zu verlassen, wird in der Regel von zwei Gefühlsebenen begleitet: Vorfreude und Hoffnung sowie Angst und Schmerz. Es ist ein „hin zu etwas“ und/oder ein „weg von etwas“. Über den Mehrwert und die Bereicherung einer Auslandserfahrung wird sehr oft berichtet und gesprochen. In der Arbeitswelt ist man sich längst darüber einig, wie wichtig es ist, dass junge Menschen andere Kulturen und auch Sprachen kennen lernen. Und genau darauf wird in der Regel das Augenmerk gelegt: Wenn es um Auslandspläne geht, dreht sich die Diskussion meistens um die Sprachkenntnisse und um die Gestaltung des Rahmens, wie die Frage nach der richtigen Versicherung. Was viele aber offenbar nicht wissen, ist dass längere Auslandsaufenthalte häufig an etwas gänzlich anderem scheitern: am Kulturschock beziehungsweise am fehlenden Bewusstsein der stattfindenden Prozesse und an entsprechender interkultureller Sensibilisierung.
Über die Erfahrung des Kulturschocks wird kaum gesprochen, doch beinahe jeder, der ins Ausland geht, macht diese Erfahrung in der einen oder anderen Form durch. Und das nicht nur bei der Auswanderung ins Ausland, sondern oft auch, bei einer späteren Rückkehr in die eigene Heimat. Wer für einen längeren Zeitraum ins Ausland geht und sich dort auf die neue Kultur einlassen will, verlässt ganz massiv seine Komfortzone und begibt sich in einen intensiven transformatorischen Prozess. Ob er in der Lernzone verbleibt oder in einer Krise gerät und sein Vorhaben vorzeitig abbricht, hängt nicht zuletzt auch von einer guten Vorbereitung ab.
Was aber ist ein Kulturschock? Wie bemerke ich ihn? Und vor allem, wie überwinde ich diesen?
Kalervo Oberg, ein US-amerikanischer Anthropologe, prägte den Begriff des Kulturschocks und beschreibt den Transformationsprozess der kulturellen Anpassung als vierstufiges Modell mit zwei Werteskalen: der Wert der Zufriedenheit und den der Zeit. Während zu Beginn einer Auswanderung oder eines längeren Auslandsaufenthaltes eine zeitlich begrenzte Euphoriephase entsteht, so kommt es oft im Verlauf des Anpassungsprozesses in der neuen Kultur zu einer starken Verunsicherung bis hin zu einer für das Vorhaben existentiellen Krise. Schafft man diese zu überwinden, kann ein Ankommen gelingen.
1. Die Flitterwochen
Das ist die Zeit der Begeisterung und der Euphorie. Die Zeit des Beobachtens und der neugierigen Auseinandersetzung. Alles wirkt spannend und aufregend. Alles ist neu und wir befinden uns in der Regel in einer Art Urlaubsstimmung. Die Gegend wird erkundigt und alles mit der rosa-roten Brille betrachtet. Obwohl ich in Brasilien aufgewachsen bin und dort auch bis zu meinem 10. Lebensjahr lebte, empfand ich dies bei jedem späteren Besuch genau so. Es führte mit der Zeit dazu, dass ich ein recht glorifiziertes Bild von Land und Leute hatte. Ich nahm mir fest vor nach dem Studium zurückzukehren und wieder dort zu leben.
Nun ist Brasilien ein Land, dass es einem recht einfach macht, es zu lieben. Kilometerweite Sandstrände, tropisches Klima, kulturelle Vielfalt, unglaubliche Feste und phantastisches Essen sowie ganz viel menschliche Wärme. Aber es ist auch ein Land mit zahlreichen sozio-ökonomischen Problemen. Spätestens bei meinem längeren Aufenthalt im Rahmen eines Auslandssemesters rückte dies stärker in den Vordergrund und ich musste den Tatsachen in die Augen sehen.
2. Der kulturelle Schock
Wenn unsere oft überhöhten Erwartungen nicht erfüllt werden, entwickeln wir schnell ein Gefühl der Ablehnung. Es ist ein Gefühl von „mir ist hier irgendwie alles suspekt und fremd“. Womöglich wird die Sprache bereits sogar sehr gut verstanden, aber oft nicht das, was zwischen den Zeilen gesagt wird. Die Menschen, ihre Bräuche und Ritten wirken nicht greifbar. Und man tritt öfters ins Fettnäpfchen. Das alles verstärkt eine ablehnende Haltung und führt wiederum manchmal zur Glorifizierung der eigenen Heimat. Es ist zu diesem Zeitpunkt, an dem sich viele nach dem guten deutschen Graubrot sehnen.
Folgende Aspekte verstärken und lösen den Kulturschock aus:
- Ablehnung gegenüber dem Neuen: Bräuche, Sitten, Menschen, etc.
- Fehlende Sprachkenntnisse
- Ohnmacht durch Wirkungslosigkeit: „das kann ich nicht hinnehmen, aber ich kann nichts dagegen tun“
- Bewusstwerdung über die Unterschiede zwischen den Ländern und Kulturen
- Verwirrung über die eigene Situation und der eigenen Rolle
- Verlustschmerz über Familie, Freunde, aber auch dem eigenen sozialen Status
- Stress, der durch die Überschreitung der Lernzone verursacht wird
Als ich das erste Mal nach Mexiko ging, machte ich dort ein Praktikum. Ich lernte in dieser Zeit meinen Mann kennen und wanderte nach einer Weile Fernbeziehung über zwei Kontinente zu ihm nach Mexiko aus. Ich liebe das Land. Seine kulturelle und landschaftliche Vielfalt faszinieren mich. Mein Mann hat eine große Familie, in der ich herzlich aufgenommen wurde. Doch fühlte ich mich nach einiger Zeit, trotz der vielen Menschen um mich und obwohl ich selbst Lateinamerikanerin bin, recht einsam. Vor allem aber konnte ich nach einiger Zeit kein Chili mehr essen. Nicht so einfach in einem Land, wo Chili zu jeder guten Mahlzeit dazu gehört. Dazu kam, dass die Arbeitsbedingungen im Land nicht besonders reizvoll waren. Ich wollte wieder zurück nach Deutschland und mein Mann folgte mir.
Hier angekommen, erlebten wir die gleiche Situation erneut. Diesmal traf es aber ihn. Es war diesmal nicht der Chili, obwohl er ihm Anfangs fehlte. Ihn traf besonders hart die Auseinandersetzung mit seiner neuen Rolle und vor allem der Verlust von Familie, Freunde und Status. Die starke Segregation der hiesigen Gesellschaft in: kleine Kinder gehen in den Kindergarten, größere Kinder in die Schule, Erwachsene gehen arbeiten und wenn sie älter werden ins Altersheim, hat großes Vereinsammungspotential. Seine Realität war bis Dato eine völlig andere gewesen. Ein Mehrfamilienhaus mit Großmutter, Eltern, Kinder, Neffen und Nichte, Cousins und auch mal Freunde. Alle gemeinsam um einen Tisch und zusammen arbeitend im Familienbetrieb. Das war eine riesengroße Umstellung!
Was wir aber bis zur bewussten Auseinandersetzung mit dem Thema nicht wussten, ist, dass dieser Übergang normal ist. Veränderungen gehen häufig mit Krisen einher. Es ist immer ein Loslassen, um Neues empfangen zu können. Um beim Bild des Wackeltisches zu bleiben: Schiefstand gehört dazu!
3. Erholung und Anpassung
Durch einen offenen Umgang mit dem Thema und mit der nötigen Offenheit gegenüber dem Neuen sowie das Bewusstsein über diese Prozesse, lassen sich solche Phasen gut überwinden und abschwächen. Wenn wir es schaffen den Kulturschock zu überwinden, dann kann ein Ankommen in der neuen Kultur gelingen. Dafür muss man sich aber bewusst die Chance geben, indem man sich öffnet und weiterhin interessiert bleibt. Die Sprache besser zu lernen, gehört da genauso dazu, wie zu versuchen Freundschaften mit den Einheimischen zu schließen. Erst dann kann es gelingen untern Eisberg zu schauen und die unausgesprochenen Regeln im kulturellen Zusammenspiel zu verstehen. Dann sind wir auch in der Lage unsere ablehnende und abwertende Haltung zu relativieren.
In dieser Phase wechseln sich Frust und Erfolgserlebnisse ständig ab, aber diese Auf und Abs fallen nicht mehr so extrem aus. Die Tendenz geht eindeutig aufwärts!
4. Zugehörigkeit und Ankommen
In der letzten Stufe sind wir integriert und wenn die Menschen um uns es zulassen, kann auch Inklusion stattfinden. Zu dem Zeitpunkt verraten oft höchstens Kleinigkeiten, dass wir einen anderen Ursprung haben. Ich erinnere mich wie erstaunt und zugleich stolz ich war, als man mich in Mexiko plötzlich fragte, aus welcher Stadt ich im Land denn sei und eben nicht mehr aus welchem Land ich den her käme. Ich war wohl angekommen. Heute erstaunt es mich eher, dass mein rollendes R mich auch noch nach über 20 Jahren in Deutschland als „andersartig“ verrät.
Veränderung kann immer nur in uns beginnen. Aber manchmal sind wir auch PartnerIn, Kollegin oder Kollege, MitschülerIn oder anderweitig mit Personen in einer solchen Anpassungssituation verbunden oder in Kontakt. In diesem Fall können wir den Prozess des Ankommens immens unterstützen und durch unsere Haltung überhaupt erst ermöglichen. Nicht zuletzt durch Empathie und indem wir eine Hand reichen, im Gespräch bleiben und Orientierung geben. Dadurch, dass wir beschreiben und erklären sowie im neugierigen Austausch bleiben. Oft sind wir uns auch nicht um alle unausgesprochene Regeln bewusst und haben völlig überzogene Erwartungen an Menschen, die gerade erst in unsere Kultur eintauchen. Eine zugewandte, interessierte und wohlwollende Haltung, kann verhindern, dass sich der andere bei Ablehnung zurück zieht.
Binationale Paare und Familien kennen sicherlich dieses Phänomen. Irgendwie fühlt es sich nirgends richtig gut an und so kommt es, dass viele in regelmäßigen Abständen mal in der Heimat des einen Partners, mal in der des anderen leben. Für mich, war lange die größte Konstante im Leben ein tiefes Gefühl von „Saudade“ (Sehnsucht). Zunächst zwischen Brasilien und Deutschland. Später kam auch noch Mexiko hinzu. Mir war nicht klar, dass ich mich nicht entscheiden muss, denn dies scheint in dieser besonderen Konstellation nie zu einem wirklich zufriedenstellenden Ergebnis zu führen. Trotz aller Integration oder Inklusion. Das Vermischen und die Sehnsucht bleiben. Man ist längst nicht im Kulturschock gefangen, fühlt sich überall Zuhause und doch ist da noch was. Damals kannte ich noch nicht die Möglichkeiten, die das Internet einem bietet. Ich kann in allen drei Ländern Zuhause sein. Aber das, wird ein anderes Thema…
Aida S. de Rodriguez
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