„Hört sofort auf damit!“ – denn ‚Mama‘ kann nicht mehr…

„Mama, ich kann das versuchen, okay?“ – sagte mir eben mein Sohn, gab mir einen Kuss und umarmte mich innig. Eine Wohltat nach den vergangenen Stunden.

Es war einer dieser Tage, wo die Erschöpfung und Müdigkeit durchkommen. Wo der angestaute Frust der letzten Tage und Wochen nicht mehr zu verdrängen und zu verbergen sind. Ein Tag, an dem ich versuchen wollte zu kompensieren, aber vergessen habe, mir meine Erwartungen bewusst zu machen.



In den letzten Stunden habe ich geschrien, gedroht, war grob und doch fühlte ich mich voll und ganz als das Opfer. Aber ich war nicht das Opfer, sondern der Täter.

Meine Arbeitslast der letzten Wochen und Monate war enorm. So eine Schulgründung birgt mehr Überraschungen als ich je erahnen konnte. Arbeitstage von 10 – 12 Stunden waren keine Seltenheit. Es sind eine Menge Player und Stakeholder involviert. Das habe ich unterschätzt. Vor allem war mir nicht klar, dass ich aus einem sehr effizienten und leistungsorientiertem Umfeld kam und die Welt hier draußen ein wenig anders ausschaut. Ich versuchte so viel wie möglicht abzugeben und Outsourcing zu betreiben, nahm mir aber nicht die Zeit zu führen. Auch nicht die Zeit für Beziehung oder Konfliktlösung, sondern fokussierte mich aufs funktionieren. Effizient, zielstrebig, workaholic. Ich hatte schlicht keine freien Ressourcen mehr für andere Dinge. Das habe ich teuer bezahlt und viel zusätzliche Arbeit geerntet. Dabei bin ich aus meinem gut bezahlten Büro-Job ausgestiegen, um… Ja, warum eigentlich?

Ich wollte mich verwirklichen und das tue ich auch. Allerdings gehörte zu dieser Verwirklichung auch mehr Raum und Zeit für meine Kinder und Familie. Ich arbeite von Zuhause aus, meine Kinder sind ebenfalls Zuhause und doch merkte ich zunehmend, dass sie mich vermissen. Im Alltag. Sie wollen mich, nicht das „AuPair“, das uns an vier Tagen in der Woche aushilft. – Ja, auch das erhöht den Druck…! – Also nahm ich wieder mehr Aktivitäten mit meinen Kindern in meinen Wochenplan auf und heute war Capoeira dran (Ich kompensiere übrigens die abhanden gekommene Arbeitszeit nicht).

Meine Kinder lieben Capoeira. Zuhause. Vor Ort dann, wollte nur eines meiner Kinder mitmachen und zwar zwei Kurse hintereinander. Das andere wollte spielen und das nächste wieder nach Hause zurückfahren. Wir meisterten die zwei Stunden dennoch alle miteinander einigermaßen gut. Draußen wurde dann noch gespielt und Freundschaften geschlossen. In der Zwischenzeit wurde ich hungrig und mir wurde kalt. Auch diesen Konflikt meisterten wir gut und machten uns nach ca. einer weiteren Stunde auf dem Weg. Die Nerven aller waren aber bereits ziemlich ausgelaugt. Und nun mussten wir noch einmal durch die Hauptstadt in der Rusch Hour mit dem Bus, samt einmaliges Umsteigen. Herzlichen Glückwunsch!

Die Kinder waren mittlerweile ziemlich durch, vollkommen aufgekratzt und nicht mehr in der Lage auf die Befindlichkeiten anderer Rücksicht zu nehmen. Das wurde mit entsprechenden Blicke und Kommentare quittiert und ich bemühte mich mehr oder minder erfolgreich, um Schadensbegrenzung.

Ausgestiegen aus dem Bus, nachdem eines der Kinder sich weigerte mitzugehen, seufzte ich laut:

„Das mache ich nie wieder!“

„Was?“ – fragte mich mein sechsjähriger Sohn erschrocken.

„Mit euch alleine irgendwohin!“ – antwortete ich bissig und voller Selbstmitleid.

„Mama, du drohst mir!“ – entgegnete mir mein Sohn und begann sofort an zu weinen, während seine Schwester bereits weiter lief und der Bruder sich weigerte, sich von der Stelle zu bewegen.

„Das tue ich nicht! Ich sage nur, dass ich nicht mehr kann!“ – antwortete ich entnervt und im Versuch mir selbst etwas vorzumachen.

„Doch, das tust du! Das sehe ich!“ – bemerkte mein Sohn scharf.

Er hatte recht, alles in mir sagte, dass ich meine Kinder gerade emotional erpresst hatte, aber ich wollte es mir nicht eingestehen. Mein Sohn erkannte die Botschaft, trotz meines Versuchs es zu verschleiern. Ich wollte, dass sie mein Leid sehen und wie gemein und undankbar sie doch waren. Und ich wollte nicht wahrhaben, dass ich gerade zum Täter geworden war. Nicht in der momentanen Verfassung, in der ich mich befand. Dazu war ich nicht in der Lage. Mir war es nach „in den Arm genommen werden, über „diese“ unmöglichen Kindern zu schimpfen und am Kopf gekrault werden“. Mir hatte es etwas ausgemacht, wie sich meine Kinder im Bus benahmen und ich schämte mich sogar…

Aber da war mein Kind, dass meine Doppelbödige Botschaft zum Glück entlarvt hatte und mir sowohl meine Gemeinheit als auch seine ganze Enttäuschung und Trauer entgegnete. Der in Not war, weil meine Liebe abhanden gekommen zu sein schien. Der vieles erlebt hatte in den vergangenen Stunden und ähnlich wie seine Geschwister noch nicht weiß, wie er all diese Emotionen kanalisieren kann. Der nichts gegen mich tat, sondern sein Bestmögliches, was ich nicht sehen konnte und wollte, in dem Moment. Der vermutlich wie ich, hungrig, müde, erschöpft und voller neuer Eindrücke und Emotionen war.

<<Sie brauchen mich>>, ging es mir durch den Kopf. Sie brauchen meine Unterstützung und Begleitung. Aber ich war maßlos erschöpft und mit mir selbst überfordert in den Moment. Also wählte ich die Strategie „Augen zu und durch“:

„Lass uns bitte ganz schnell nach Hause!“ – rief ich und offenbar stimmte nun meine Körperhaltung zu meiner Botschaft, so dass alle sich in Bewegung setzen.

Zuhause ging das Drama allerdings weiter. Alle hatten Hunger, waren aufgekratzt, schrien durcheinander, alberten, usw. Mein Kopf war kurz vorm platzen:

„STOPP!“ – platzte es laut aus mir heraus. „Hört sofort auf damit!“

Da war es.



Nachdem ich meine Kinder erpresst, es anschließend verleugnet und sie auch noch für all das verantwortlich gemacht hatte, schrie ich sie noch an.

Das war das erste Mal seit vielen Monaten und ich erschreckte mich vor mir selbst. Ich zog mich ins Bad zurück und bemitleidete mich zunächst einmal selbst. In meinen Kopf ratterte es:

<<Was passiert da gerade mit dir? Das bist doch nicht du? Oh doch! Auch das bist du. Mach dir doch nichts vor. Du willst nicht so sein, aber auch das ist real und in dir. Verleugne dich doch nicht selbst. Übernimm Verantwortung für das, was gerade passiert ist!>>

Und das tat ich, indem ich mich zunächst in den Arm nahm, mein Mann bei der Arbeit anschrieb und so ein wenig für meine emotionale Hygiene sorgte. Ich dachte über ein wunderbares Gespräch heute Mittag nach, welches ich mit einer tollen Frau über das Thema Trauma und Erziehung geführt hatte. Es war irritierend, witzig und erschreckend zugleich, wie es offenbar in mir gewirkt hatte und Dinge in Schwingungen setzte. Ich fühlte mich in dem Moment wieder wie die kleine Aida von Einst, die nun Erwachsen ist und erkannt hatte, dass sie sowohl Opfer als auch Täter war und ist. Es war ein Thema in unserem Gespräch und es hatte mich eingeholt.

Ich fühlte mich wieder gefestigt und stabil genug. Also tat ich das, was ich schon hätte viel früher tun sollen:



Ich atmete tief durch! Dann umarmte ich meine Kinder und sagte jedem von ihnen, dass es mir sehr leid tut. Das es absolut nicht ok war, sie anzuschreien oder auf diese Weise unter Druck zu setzen.

Ich redete mit meinem Sohn über das Thema „Drohung“ und das er richtig lag und ich ihm dankbar bin, dass er es mir so deutlich aufzeigen konnte. Das es nicht richtig war und ich es sehr bedauere. Sowohl die Drohung als auch mein Leugnen.

Von mir gab es keine Rechtfertigungen ihnen gegenüber. Ich habe nicht, wie hier zu Beginn meines Textes, über die vergangenen Wochen und Monate erzählt. Es tut nämlich nicht zur Sache.



Wichtig war es, dass ich die Verantwortung wieder dahin gebracht habe, wo sie hingehört: zu mir!

Später ergab sich ein erneuerter Konflikt am heutigen Tag. Wir konnten diesmal jedoch wieder in gewohnter Manier streiten: auf Augenhöhe und respektvoll! Wir konnten uns übereinander ärgern, miteinander nach Lösungen schauen, uns gegenseitig unser bedauern ausdrücken und Wünsche äußern:

„Mich ärgert es, wenn ich dich frage, ob du etwas essen magst und du nicht reagierst (auch nicht auf Berührungen), aber sobald ich mich hinlege, dann laut schreist, dass du hunger hast. Das mag ich so nicht mehr. Ich bin müde und will schlafen. Könntest du bitte versuchen mir das zu sagen, bevor ich liege?“ – erklärte und fragte ich mein Sohn.

„Mama, ich kann das versuchen, okay?“ – sagte mir eben mein Sohn, gab mir einen Kuss und umarmte mich innig.

Und so schließt sich wieder der Kreis…

Beim Verzicht auf Erziehung geht es nicht um Unfehlbarkeit. Es geht um die Übernahme von Verantwortung sowie um die Bereitschaft sich zu reflektieren und zu wachsen. Aus Fehlern zu lernen. Entwicklung zuzulassen. Sich selbst gegenüber nachsichtig und empathisch zu sein. Und es dann umzusetzen. Aus tiefsten Herzen. Egal, wie die Rahmenbedingungen sind.

Saluditos & Axé

Eure

Aida

 

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Foto von diego cervo, Fotolia.

About The Author

Aida S. de Rodriguez

Aida ist Mutter eines Zwillingspärchens und eines ein Jahr jüngeren Sohnes. Ihre Kinder wachsen interkulturell, mehrsprachig sowie bedürfnisorientiert auf. Als Coach, Beraterin und Trainerin begleitet sie Menschen rund um die Themen Unerzogen, Selbstwirksamkeit, Transformationsprozesse und Diversity. Ihre Vision ist ein gleichwürdiges Miteinander aller Menschen. Dafür setzt sie sich für die Rechte von Kindern auf gewaltfreien Umgang sowie auf ein selbstbestimmtes Leben und Lernen ein.

10 Comments

  • Kathrin

    Reply Reply 8. Mai 2017

    Liebe Aida, es tut so gut zu lesen, dass so etwas auch einem „Profi“ wie Dir mal passiert. Hatte letzte Woche auch so einen Tag und konnte mit das kaum verzeihen. Das zu Lesen hilft jetzt wirklich :-).

    • Aida S. de Rodriguez

      Reply Reply 16. Mai 2017

      Liebe Kathrin,

      Druck rauslassen ist eine prima Sache! Annehmen ermöglicht nämlich erst ein Loslassen! <3

      Alles Liebe
      Aida

  • Ama

    Reply Reply 8. Mai 2017

    Liebe Aida,
    Danke!
    Denn auch das ist Verantwortung.
    Alle Facetten, bzw. Entwicklungswege zu zeigen.
    Und es wird ja nicht nach ein Ideal, einem “ Erfolgsrezept“ gestrebt, sondern – du schreibst das so schön – um ein gleichwürdiges Miteinander.

    Liebe Grüße

    • Aida S. de Rodriguez

      Reply Reply 16. Mai 2017

      Vielen Dank für dein Feedback! Und ja, für mich ist genau das, worauf es ankommt: Verantwortung! Liebe Grüße zurück!

  • Alexej

    Reply Reply 8. Mai 2017

    Liebe Aida, sehr berührend und echt. Ich traute mich kaum, Atem zu holen, bevor ich bis zur Auflösung am Ende gelesen hatte.

    • Aida S. de Rodriguez

      Reply Reply 16. Mai 2017

      Vielen Dank für deine Rückmeldung, lieber Alexej!

  • michaela

    Reply Reply 12. Juni 2017

    Liebe Aida,

    das ist genau mein Thema! Ich freue mich auf ein Gespräch mit dir!
    Lieber Grüße

  • Zarah

    Reply Reply 25. Juni 2017

    Liebe Aida, danke für diesen wunderbaren, ehrlichen Text!
    Solche Situationen gibt es bei uns – leider!! – sehr oft, weil ich extrem unter Druck stehe und zu oft kriegen es die Kinder ab! Dein Text führt mir wieder mal vor Augen, was der richtige Weg ist!
    Danke! (())

  • Laila Pereira

    Reply Reply 21. August 2017

    Liebe Aida

    Bin ich richtig in der Annahme dass du früher erzogen hast? Ich versuche gerade einiges zu ändern bei uns. Ich will nicht mehr drohen, nicht mehr strafen! Einfach liebevoll begleiten. Meine kinder sind 6j, 4j und 1/2jährig. Die alten muster abzulegen ist soooo schwer. Und wutanfälle zu begleiten fällt mir auch sehr schwer.
    Wie war der „wechsel“ bei dir? Wie nahmen deine kinder das an?
    Ich freue mich sehr wenn du lust und natürlich zeit hast mir zu antworten. Glg laila

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