Was unerzogen und die vegane Lebensweise miteinander zu tun haben?
Eine Menge und vermutlich doch nicht das, was du jetzt denkst.
Eine Sorge möchte ich dir gleich zu Beginn nehmen: du musst deine Ernährung nicht ändern, um unerzogen leben zu können. Unerzogen bedeutet die Abwesenheit von Erziehung und das macht dir keine Vorgaben hinsichtlich deiner Lebensweise im Allgemeinen.
Es ist erst einmal irrelevant, ob du nun tierische Produkte zu dir nimmst oder nicht. Es sagt erst einmal auch nichts darüber aus, ob du dein Kind in den Kindergarten bringst oder Zuhause betreust, ob ihr im Familienbett oder in getrennten Schlafzimmern nächtigt, ob du gestillt hast oder deine Kinder das Fläschen bekamen, ob du sie getragen oder vornehmlich den Kinderwagen genutzt hast, ob deine Kinder eine Regelschule, eine freie aktive oder demokratische Schule besuchen oder vielleicht sogar Freilerner ohne Schule sind. Es ist auch egal, ob du einen 0815 Job nachgehst oder als unabhängigen, digitalen Nomaden mit deiner Familie die Welt bereist. Bei unerzogen geht es zunächst einmal um deinen Umgang mit deinem Kind (Menschen im Allgemeinen) und doch geht es um noch so viel mehr.
Deine Lebensweise ist in der Regel Ausdruck deiner Haltung. Manchmal ist die Lebensweise zuerst da (Einfluss von außen) und bewegt deine Haltung. Häufiger jedoch passiert etwas in deinem Inneren, was sich dann im Außen ausdruckt. Der Verzicht auf Erziehung kann demnach durchaus dazu führen, dass du deine Ernährungsweise in Frage stellst oder dich beispielsweise mit Attachment Parenting oder dem digitalen Nomadentum auseinandersetzt und identifizierst. Ebenso kann eine vegane Lebensweise dich zum Umdenken in Bezug auf deinen Umgang mit jungen Menschen bringen. Für viele lassen sich diese Lebensbereiche, oder zumindest einige von ihnen, jedoch wunderbar voneinander trennen. Mir geht es da ein wenig anders. Für mich ist das alles am Ende eins.
Seit einigen Jahren stecke ich in einem Veränderungsprozess, der mein Leben komplett auf dem Kopf stellt. Ohne Frage war die Geburt meiner Kinder ein wichtiger Auslöser, aber auch der „Zeitgeist“ geht nicht spurlos an mir vorbei und beeinflusst meine Entwicklung. Suchende und Menschen in Bewegung sind ja meist offen für solche Impulse. Die Frage ist vor allem, in welche Richtung wir unsere Antennen ausrichten. Bei mir ist sie auf Selbstwirksamkeit und Liebe eingestellt.
Veränderungsprozesse sind spannend, oft sehr anstrengend, aber auch unglaublich bereichernd. Sie bergen unglaubliches Potential in sich, haben aber auch einige unerwartete Überraschungen parat. In solch einer Überraschung stecke ich momentan: seit nun sechs Wochen verzichte ich auf tierische Produkte. Ich ernähre mich vegan. Zumindest versuche ich es. Dazu sei vielleicht wichtig zu erwähnen, dass ich leidenschaftlich gerne esse und bis vor 6 Wochen bestand mein Speiseplan weitestgehend aus tierische Produkte. Wie es sich klischeehaft für eine Lateinamerikanerin gehört, wählte ich zunächst das gewünschte Fleisch aus und gestaltete um dieses herum ein Gericht. Nun hat sich etwas in mir bewegt und ich kann Fleisch nicht mehr als Strategie zur Nahrungsaufnahme berücksichtigen.
Die Gründe warum ich auf tierische Nahrungsquellen für mich verzichte, sind vielfältig. Doch möchte ich an dieser Stelle weder eine ethische Diskussion starten, noch über gesundheitliche Aspekte philosophieren. Dafür sind meine ersten Schritte auch noch viel zu zaghaft und unerfahren. Das hebe ich mir für irgendwann später auf…
Es kam für mich unerwartet, beinahe über Nacht und doch lag dem zuvor ein langer innerer Prozess, der letztlich zu einer Veränderung meines Weltbildes führte und somit auch meiner Lebensweise. Und genau darum geht es mir, denn ich traf eine Entscheidung, die von dem Moment an, Tiere als Nahrung für mich annullierte.
Eben diese Erfahrung machte ich schon einmal in meinem Leben. Es war der Tag, an dem ich Erziehung für mich als Handlungsoption im Umgang mit meinen Kindern strich. Ich erkannte, dass dies, was weitläufig als Erziehung verstanden und auch im Alltag gelebt wird, etwas ist, was ich im Umgang mit mir als gewaltvoll empfinden würde und Gewalt im Umgang mit meinen Kindern ist für mich schlichtweg keine Option.
Nun stehe ich an einem Punkt, an dem ich schon einmal stand: ich verzichte auf gewohnte Strategien und Handlungsmuster, kenne jedoch kaum neue Strategien.
Um es einmal zu überspitzen:
Ich habe Hunger!
Mir ist alles rund ums Essen sau anstrengend gerade. Ich esse zeitweilig ziemlich einseitig. Ständig muss ich überlegen, lesen, recherchieren. Einkaufen dauert ewig und ich bin immer wieder vom Ergebnis zumindest enttäuscht. Ich fühle mich unsicher, verletzlich und nicht selten auch ziemlich frustriert. Ich mache „Fehler“, esse dann doch bewusst oder unbewusst Dinge, die ich gar nicht mehr essen will, finde vieles häufig „künstlich“ und einfach äußerst ungewohnt und fremd.
Mich nerven die gutgemeinten Tipps, gelegentlich empfinde ich die „alten Hasen“ auf dem Gebiet als ziemlich arrogant, wenig hilfreich und sehr viele von ihren Strategien einfach vollkommen unpassend für mich. Und dann sind da noch die, die sich ungefragt einmischen, mich belehren darüber, welche Ernährungsweise besser wäre, meine Unsicherheit berühren und mit nett gemeinten Kommentaren befeuern. Ich fühle mich auf dem Prüfstand und gebe hier und dort unter den Druck und den fehlenden Alternativen nach.
Und wie ich weiß, geht es sehr vielen Eltern, die auf Erziehung verzichten wollen, ganz genau so!
Dann beginnt die Suche nach Orientierung.
Die Rufe nach Methoden und konkreten Handlungsanweisungen und -wege werden laut: „Was soll ich denn bitte genau tun, wenn mein Kind xyz macht und ich es nicht erziehen, bestrafen oder was auch immer darf?“. „Du schreibst, was ich nicht tun soll, mir fehlen jedoch konkrete Tipps, was ich stattdessen tun kann!“
Soll ich dir etwas verraten?
Das ist vollkommen normal!
Veränderungsprozesse brauchen Zeit. Verunsicherung gehört genauso dazu wie Ausprobieren, Fehler machen und auch mal Rückschritte. Wir sind außerdem darauf getrimmt alles methodisch, linear und dual anzugehen. A führt zu B, usw. So läuft das mit zwischenmenschlichen Beziehungen aber nicht. Und das verunsichert natürlich zusätzlich.
Auf der anderen Seite, erlebe ich für meinen Teil, seit 6 Wochen eine Explosion der Geschmäcker. So viele neue Dinge habe ich kennengelernt. So viel konnte ich wieder einmal über mich erfahren! Und das Beste, ich fühle mich fitter und zahlreiche gesundheitliche Probleme scheinen wie durch Zauberhand verschwunden. Ich erlebe mich bewusster und vor allem konsistent mit meinen Werten. So schwer es mit fällt, ich spüre, dass ich auf meinen Weg bin und dass dies eine wichtige Entscheidung für mich war. Zugleich ist es mir bewusst, dass ich mich auf einer langen Reise begeben habe. Zurück möchte und kann ich jedoch nicht mehr.
Ich fragte zum Beispiel nach, was die Leute so essen, die sich schon länger vegan ernähren. Klingt jedenfalls nicht nach einer schwierigen Frage und ich bekam auch zahlreiche Antworten. Ich erhielt dabei einige Anhaltspunkte, Impulse und doch muss ich schauen, was daraus für mich eine mögliche Alternative sein könnte.
Mein Weg kann mir niemanden erklären, auch dann nicht, wenn mich jemanden an die Hand nimmt und mit mir gemeinsam neue Rezepte ausprobiert.
Nichts anderes ist es das mit unerzogen.
In dem Moment, wo Gewalt keine Strategie mehr darstellt und du dein Kind nicht mehr erziehen willst, fallen eine Menge Handlunsgoptionen erst einmal weg. So wie ich mein Hunger nicht mehr mit einem Spiegelei mit Bacon stille, so ist Drohung, Erpressung, Druck und Fremdbestimmung keine Alternative mehr im Umgang mit deinem Kind.
Zugleich hast du noch keine neue Ideen und weißt meist gar nicht wie dieses „in Beziehung begleiten und sein„, geht. Schließlich wurdest auch du einst erzogen und ein übergriffiger Umgang mit Kindern ist nach wie vor gesellschaftliche Norm. Du eckst womöglich an, mit deinen Vorstellungen und Sonderwünschen, fühlst dich fremd (mir war es zum Beispiel nicht bewusst, dass kaum ein Restaurant vegane Alternativen hat). Dir fehlen Vorbilder. Du schwankst, fällst in alte Muster zurück, bist verunsichert. Und dann siegt der Hunger bzw. die Erschöpfung, die Wut, die Ohnmacht…
All das gehört dazu, wenn wir gewohnte Pfade verlassen. Es ist unbequem. Für uns selbst und manchmal sogar auch für andere. Es braucht Zeit zum Lernen und Ausprobieren, es braucht viel Empathie sowie Geduld mit sich selbst und andere, es braucht manchmal auch ein neues Umfeld und Menschen, die denselben Weg gegangen sind oder gehen und mit denen man sich austauschen kann. Und irgendwann ist es tief in dir und du kommst auch nicht unter Stress darauf diese einst so selbstverständliche Strategien zu nutzen. Erziehung ist für dich schlicht keine Option mehr.
Saluditos & Axé
Eure
Aida S. de Rodriguez
P.S.: mein Mann ernährt sich nun vegetarisch. Meine Kinder essen nach wie vor selbstbestimmt. Sie stellen uns in gewohnter Manier viele neugierige Fragen und übernehmen das, was ihnen sinnvoll erscheint.
P.P.S.: in einer Notsituation würde ich nach wie vor auf tierische Produkte zurückgreifen. Ebenso würde ich in Notsituationen schützende Gewalt ausüben. Die tägliche Zahnhygiene stellt kein solcher Sachverhalt dar. Eine befahrene Straße unter Umständen schon.
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Foto von Focus Pocus LTD, Fotolia .
5 Comments
Sarah
19. August 2017Hallo Aida,
Je nachdem wieviel Kraft und Energie ich übrig habe versuche ich mich vegetarisch bis vegan zu ernähren.
Ich habe sehr sehr viele Bücher und Kochbücher angeguckt und gelesen.
Mit Abstand am Besten fand ich die Kochbücher von Lisa Pfleger.
Keine „dieses Pulver“ und “ dieser schwer zu bekommende Ersatz“.
Ganz einfach und am Boden geblieben.
Vielleicht dind sie ja auch was für dich, ich wollte dir auf jeden Fall gerne den Tipp geben.
Liebe Grüße ind viele Erfahrungen auf deinem Weg
Sarah
Birgit Assel
19. August 2017Liebe Aida,
das ging ja jetzt fix 🙂 Und klar, gewaltfrei heißt für mich: auch keine Gewalt gegen Tiere.
Als ich das nicht nur im Kopf, sondern auch in meinem Herzen „verstanden“ hatte, konnte ich keine tierischen Produkte mehr essen.
Alles Liebe für dich und viel Spaß beim entdecken von schnellen, leichten und superleckeren veganen Rezepten…das Netz ist voll von davon 🙂
Birgit
Maria von OstSeeRäuberBande
22. August 2017Liebe Aida,
was für ein kluger, verständnisvoller Artikel über Veränderungsprozesse.
Unsere Familie befindet sich ebenfalls seit etwa zwei Jahren in solch einem Prozess (eigentlich schon länger, aber vorher eher unbewusst suchend) und ich finde es spannend, wie sehr ein veränderter Umgang mit den Kindern in andere Lebensbereiche ausstrahlt. So bin ich schon lange Vegetarier, tendiere aber auch immer stärker Richtung Vegan. Aber auch andere Lebensbereiche verändern sich: so kommunizieren auch wir Erwachsenen untereinander viel bewusster und blicken auch gegenseitig sowie jeder für sich stärker auf Bedürfnisse – das tut uns allen sehr gut. Und so wie wir wertschätzen, wie die Kinder die Welt entdecken, so machen wir es immer stärker auch – wir Großen sind quasi auch Freilerner geworden (oder nehmen es jetzt bewusster war). Alles sehr spannend!
Viel Erfolg auf deinem Weg und neue, leckere Rezepte!
Maria von OstSeeRäuberBande
Jen
4. September 2017Hey, das war ja schön zu lesen! dankeschön 👍
Unser Kochbuch ist gerade erst erschienen, vegane und einfache Gemüseküche, von Aufstrich bis zur Torte, verschiedenes. Vor allem einfach und kreativ. Bei uns im Shop kann man einen Einblick bekommen und auf unserem Youtube Kanal sieht man es im Vorstellungsvideo im Detail.
Gutes Gelingen und vor allem viel viel Freude in der Küche beim erproben neuer Gewohnheiten 👍
Susanne Bregenzer
27. Januar 2018Hallo Aida!
was für ein toller Vergleich: ja genau so fühlt es sich an, plötzlich ohne Erziehung dazustehen. Ich glaube ich muss meinen Kindern teilweise wie schizophren vorgekommen sein! Ich sprach in der Hilflosigkeit irgendwelche Erziehungsmaßnahmen aus, revidierte sie sofort wieder und rief: „Das will ich doch gar nicht mehr, so ein Quatsch!“
liebe Grüße
Susanne Bregenzer
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