Es ist nie zu spät neu zu beginnen! – Tschüss Erziehung, willkommen Beziehung!

Du kannst dich jeden Tag neu entscheiden. Und ja, du kannst auch nach vielen Jahren des Erziehens damit aufhören. Hier und heute. Und zwar sofort.

Ich bekomme beinahe täglich neue Anfragen für die unerzogen Gruppe auf Facebook und sehr oft berichten mir die Interessenten, dass sie AP (Attachment Parenting) praktizieren, ihre Kinder Zuhause betreuen, stillen und tragen und selbstverständlich im Familienbett schlafen. Sehr oft lese ich dann auch, dass sich die Familie vegan ernährt. Andere erzählen mir, dass sie kein Fernsehen haben und wieder andere, dass sie Zuckerfrei leben.

Manchmal kommen auch Anfragen von Eltern, die in eine Akutsituation stecken und einfach nicht mehr weiter wissen mit ihrem Erziehungslatein und daher einfach offen für andere – abenteuerliche – Dinge sind. Sie sind in der Regel nicht ganz so ausführlich und ein wenig zurückhaltender. Ich habe mich gefragt warum das so ist und bin in den Diskussionen in verschiedenen Elterngruppen immer wieder auf die Frage gestoßen, ob es nicht schon zu spät sei mit unerzogen zu beginnen, nachdem man bereits viele Jahre erzogen hatte.



Die Wege, die zum Verzicht auf Erziehung führen, sind sehr unterschiedlich

So verschieden eben wie die Menschen selbst. Manche Familien leben von Anfang an bedürfnisorientiert und für sie stellt sich oft die Frage nach Erziehung gar nicht erst. Sie freuen sich dann darüber, dass ihre Art zu leben, ihre Haltung zum Leben selbst und zu den Menschen plötzlich einen Namen erhält. Sie füllen sich oft einfach nicht mehr ganz so allein und exotisch. Ein wenig zähle ich mich zu dieser Gruppe, auch wenn ich einst in der Verzweiflung und Überforderung begonnen hatte meine Kinder zu erziehen.

Was mich allerdings nicht aus dieser Gruppe exkludiert, ist die Tatsache, dass ich mich nicht vegan ernähre oder auf Zucker verzichte. Wir nutzen auch Bildschirmmedien wie andere Unterhaltungsmedien und Arbeitsmaterialien auch. Wir hatten einen Zwillingskinderwagen, auch wenn ich die Kinder noch mit drei Jahren regelmäßig im Tandem trug und es manchmal noch heute mache. Und ich konnte meine Zwillinge aufgrund der extremen Frühgeburt nicht stillen, sondern nur für ca. vier Monate abgepumpte Milch zur Verfügung stellen. Den jüngeren Bruder stillte ich aus gesundheitlichen Gründen bereits nach sechs Monate ab. Meine Kinder besuchen einen Kindergarten und kamen alle drei per Kaiserschnitt in einer großen Uni-Klinik zur Welt. Das einzige, was uns nach diesen Maßstäben als bedürfnisorientierte Familie verraten könnte, ist unser großes Familienbett

Es gibt aber auch Eltern, die mit ihren Kindern bewusst Schlaftraining machten, sie manipulativ, drohend und erpresserisch bis Dato erzogen. Menschen, die dachten, das gehört eben so. Menschen, die auf diese Art ebenfalls groß wurden und in einem Umfeld leben, wo das die Norm ist. Oft sind die Kinder bereits etwas größer und die Eltern wünschten sich früher etwas über AP und unerzogen gehört zu haben. Sie spüren in sich, eine Art Trauer und Sehnsucht. Sie erleben manchmal ganz konkret, dass sich ihr Kind abwendet und distanziert. Oder sie lesen zufällig ein Text über eine empathische und gewaltfreie Begleitung von Kindern und werden neugierig, beginnen zu hinterfragen.

Das tragische ist, das einige dieser Eltern sich dann nicht trauen den Schritt zu gehen und auf Erziehung zu verzichten, weil sie denken, es gebe kein zurück mehr. Weil sie denken, es sei wahrhaftig gelaufen und zu spät. Weil sie sich schämen… <<Wenn ich mein Kind nicht natürlich, am besten noch Zuhause, entbunden, es anschließend mehrere Jahre gestillt, getragen und Zuhause betreut habe sowie selbstverständlich im Familienbett schlafe, dann kann ich auch nicht auf Erziehung verzichten. Und wenn ich es nicht heute sofort beginnen will, also im Familienbett zu schlafen und auf Fremdbetreuung zu verzichten, dann werde ich auch nie unerzogen leben können.>> So jedenfalls offenbar das Bild einiger.

Genau an diese Eltern wende ich mich mit diesen Artikel und sage: Doch, du kannst!



Du kannst dich jederzeit für Respekt, Augenhöhe, Empathie, Liebe und somit Beziehung entscheiden

Du kannst diese Entscheidung jederzeit treffen. Und dein Kind wird es dir danken. Egal ob es 1, 4 oder 10, wenn nicht gar 17 Jahre alt ist. Wenn du es wirklich willst, dann findest du auch Wege! Und einer davon könnte sein, Hilfe anzunehmen.



Unerzogen ist die Abwesenheit von Erziehung

Erziehung verstanden als die bewusste Formung eines Menschen in eine für den Erziehenden für adäquat befundene Richtung. Wenn ich auf Erziehung verzichte, erlaube ich meinem Gegenüber zu sein, vielmehr noch, ich erlaube mir mein Gegenüber kennen zu lernen.



Unerzogen ist eine Haltung zum Leben

Diese basiert auf Neugier, Respekt und Liebe. Es ist eben keine Methode und es bedingt auch nicht die Einhaltung einer bestimmten Abfolge. Unerzogen ist auch kein Wettbewerb um die besten Eltern, vielmehr ist es die Anerkennung dessen, dass wir alle Menschen sind. Und Menschen machen bekanntlich auch Fehlen und haben eine Geschichte, die sie mit sich herumtragen.

Als unerzogen in mein Leben kam, waren meine Zwillinge bereits zwei Jahre alt. Es war für mich ein Gefühl von endlich angekommen zu sein. Ich fühlte mich Zuhause und verstanden. Ich sah aber auch wie viel Mist ich in den vergangenen zwei Jahren bereits fabriziert hatte.



Wie oft hatte ich die Beziehung zu meinen Kindern aufs Spiel gesetzt?

Wie oft hatte ich übergriffig und respektlos agiert, weil ich dachte, dass Kind muss sofort die Windel gewickelt bekommen, endlich schlafen, aufhören mit Essen zu schmeißen oder warum auch immer sich den gängigen Erziehungsvorstellungen konform verhalten?

Es tat unglaublich weh es zu erkennen und mir einzugestehen. Ich schämte mich. Es fiel mir schwer, mir zu verzeihen und mit mir selbst empathisch zu sein. Bis ich Begriff, dass auch ich ein kleines innere Kind mit vielen (unerfüllten) Bedürfnissen bin. Bis ich erkannte, dass auch mir Vorbilder und alternativen Strategien fehlten. Bis ich verstand, dass ich immer bei mir beginnen muss, wenn ich Dinge verändern will. Und dass es viel Arbeit vor mir liegt.



Ja, Beziehung ist auch Arbeit.

Beziehungsarbeit mit sich selbst, dem Kind und dem Umfeld. Das braucht Zeit. Und auch Übung. Es braucht aber vor allem die Bereitschaft sich zu öffnen und die Entscheidung es zu tun. Es ist aber zugleich auch ein sehr erfüllender Weg. Die Beziehung zu meinen Kindern erhielt durch dieses Bewusstsein eine völlig andere Qualität und Klarheit. Sie beruht auf gegenseitiges Vertrauen, sie ist zugewandt, achtsam, liebevoll und vor allem authentisch.

Doch selbst, wenn wir den bedürfnisorientierten Weg einschlagen und auf Erziehung verzichten, um so mit unseren Kindern in Beziehung zu sein, gibt es keine Garantie auf ein bestimmtes Ergebnis.



Unerzogen funktioniert nicht!

Das ist sehr wichtig zu verstehen. Unerzogen ist Haltung und keine Methode. Es braucht Zeit alte Muster zu verlassen und wir werden immer wieder viele Fehler machen, denn wir sind Menschen und Menschen funktionieren nun einmal nicht. Wir sind keine Maschinen, die dank einer Gebrauchsanweisung perfekt laufen.

Aus meiner Arbeit als Projektleiterin und aus der Trainertätigkeit weiß ich, dass selbst die beste Methode ganz unterschiedliche Ergebnisse hervorbringen kann und ich immer dann erfolgreich eine Gruppe führe, wenn ich mich wahrlich für sie interessiere und somit in Beziehung trete.



Die Methode kann ein Hilfsmittel sein, aber niemals die Haltung ersetzen

Wir werden als Eltern auch in Beziehung immer wieder Fehler machen und falsche Entscheidungen treffen. Wichtig dabei ist, dies zu erkennen, dafür die Verantwortung zu übernehmen und mit uns selbst ebenfalls nachsichtig, rücksichtsvoll und empathisch zu sein. In der Regel lieben Eltern ihre Kinder und handeln stets mit der besten Intention. Umso wichtiger ist es, dass wir uns darüber im Klaren sind, dass wir unsere Meinung ändern und neue Wege gehen dürfen.

Es geht nicht darum perfekte Eltern zu sein. Menschen sind nicht perfekt. Es geht darum, das bestmögliche zu geben, was wir zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Lage sind.



Erst durch Selbstempathie, können wir gegenüber andere empathisch sein


Veränderungen beginnen immer in uns! Es ist nie zu spät neu zu beginnen. Es ist nie zu spät auf Erziehung zu verzichten. Wir können uns jederzeit für die Liebe entscheiden und somit den Teufelskreis der Gewalt durchbrechen.

Saluditos & Axé

Eure

Aida S. de Rodriguez

 

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(* = Affiliatelink)

About The Author

Aida S. de Rodriguez

Aida ist Mutter eines Zwillingspärchens und eines ein Jahr jüngeren Sohnes. Ihre Kinder wachsen interkulturell, mehrsprachig sowie bedürfnisorientiert auf. Als Coach, Beraterin und Trainerin begleitet sie Menschen rund um die Themen Unerzogen, Selbstwirksamkeit, Transformationsprozesse und Diversity. Ihre Vision ist ein gleichwürdiges Miteinander aller Menschen. Dafür setzt sie sich für die Rechte von Kindern auf gewaltfreien Umgang sowie auf ein selbstbestimmtes Leben und Lernen ein.

2 Comments

  • Liebe Aida, Dein Vortrag und Dein Artikel gefallen mir. Ich glaube, ich seh alles genauso und sag das auch seit vielen Jahren. Ich glaube, es tut vielen Menschen gut, wenn man, wie Du das tust, sagt, daß man selbst auch einmal Opfer der Erziehungsideologie war und wie man daraus gekommen ist. Kennst Du die Bücher von Alice Miller? Und würdest Du mal in „Die Vernichtung der Weisen Frauen“ hineingucken? Mit hat das alles sehr geholfen. Was hälst Du von meinem Friedesnvertrag? (Der ist im Kongreßpaket mit verschnürt.) Wäre es sinnvoll, den ins Spanische zu übersetzen? Ich kenne Portugal ein wenig und glaube, daß er dort durchaus nützlich sein könnte.

    Mal sehen, was aus diesem Kongreß an Zusammenarbeit entstehen wird.
    Herzliche Grüße von Alexej Sesterheim

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