Wer kleine Kinder hat, kennt sicherlich auch solche Situationen: Die Familie sitzt gemütlich am Esstisch und plötzlich fängt das Kleinkind an, mit seinem Essen zu matschen oder es runter zu werfen. Oder das zweijährige Kind, welches sich immer wieder eine neue Traube nimmt, rein beißt und diese wieder zur Seite legt, ohne sie aufzuessen. Auch nicht ungewöhnlich ist, wenn das Kind ständig zum Kühlschrank läuft und sich einen neuen Pudding nimmt, ohne ihn dann wirklich zu essen. Immer und immer wieder. Nicht zu vergessen der Brotbelag, der ohne das Brot aufgegessen wird. Die Liste ist schier unendlich. Der ganz normale Familien-mit-Kleinkind-Alltags-Wahnsinn also.
Diese Situationen sind uns Eltern allen bekannt und doch überkommt uns auch hier schnell die Angst und das erzieherische Ich wird laut:
„Mit Essen, spielt man nicht!“
Hinter diesem weit verbreiteten Glaubenssatz steckt oft die Angst vor Verschwendung. Ging es in der Nachkriegszeit um tatsächlichen Mangel, so argumentieren wir heute gerne mit dem Leid der Menschen in der Dritten Welt oder damit, dass wir die Konsumorientierung in der Gesellschaft nicht unterstützen wollen.
Aber was ist Verschwendung?
Wenn ich etwas nutze, auf welche Weise auch immer, ist es dann Verschwendung? Wo ist die legitime Grenze zwischen Nutzung und Verschwendung? Ist unser zivilisiertes Leben nicht eine allgemeine Verschwendung von Ressourcen? Warum sind wir bei Kindern in der Beurteilung darüber immer ein wenig „genauer“?
Wenn ich Dinge vermeintlich zweckentfremde, ist es dann Verschwendung? Wenn ich eine Gabel als Flaschenöffner benutze, ist das Verschwendung? Ist es das, wenn diese sich verzieht und nicht mehr als Gabel zu nutzen ist?
Ist es Verschwendung, wenn mein Kind ein Gänseblümchen nimmt, es auseinander pflückt und daraus für ihre Puppen eine Mahlzeit zubereitet, anstatt es unserem Hasen zu essen zu geben?
Ist es also Verschwendung, wenn Kinder Nahrungsmittel erleben, mit allen Sinnen begreifen, anstatt sie nur aufzuessen?
Nein, im Gegenteil!
Kinder sind neugierige und leidenschaftliche „Sinneswesen“
Kinder wollen ihre Welt erfahren und erleben. Mit allen Sinnen erforschen, spüren und begreifen. Sie haben Spaß am Entdecken. Und sie haben Spaß am Essen. Indem sie ihr Essen mit allen Sinnen erleben dürfen, können sie auch eine Beziehung zur Nahrung aufbauen.
Sinnliches Erfahren und Erleben sind grundlegend für die Vernetzung der Nervenzellen und somit für die gesamte Entwicklung unserer Kinder. Interessanterweise sind es oft die gleichen Eltern, die vor Bildschirmkonsum Angst haben, die auch ihren Kindern das Erleben mit Essen verwehren. „Mit Essen spielt man nicht.“ und „Fernsehen macht dumm.“, das sind weit verbreitete Glaubenssätze, die Erziehung auf den Plan rufen. Aber wenn passiver Medienkonsum dumm macht, muss aktives Spiel mit Essen doch wünschenswert sein, oder nicht?
Erfahrungen sind unabdingbar fürs Lernen. Woher soll ein Kind wissen, dass die nächste und übernächste Traube oder was auch immer genauso schmeckt wie die erste? Oder wenigstens so ähnlich? Doch nur durch Erfahren und Erleben. Da hilft es nicht, dass wir davon erzählen. Das Kind will eigene Erfahrungen sammeln und so daraus lernen und schlussfolgern.
Lernen lässt sich nicht erzwingen – und wäre es überhaupt wünschenswert? Kleinkinder experimentieren solange, wie sie eben brauchen, um festzustellen, wie etwas funktioniert, schmeckt, sich anfühlt oder verhält. Das ist ein natürlicher und unabdingbarer Vorgang.
Kinder lernen mit allem Sinnen, exzessiv und wiederholend sowie prüfend und hinterfragend
- Warum fällt das Essen auf dem Boden und macht beim Ankommen so lustige Geräusche? Und warum klingt der Brokkoli beim Aufprall anders als der Kartoffelbrei?
- Warum schmeckt die erste Traube süßer als die zweite? Oder: Ist es wirklich wahr, dass alle grünen Kügelchen gleich schmecken? Wirklich alle?
- Hm, warum schmieren sie die Schokoschmiere auf das Brot, wenn ich doch nur die Schmiere essen mag? Und schmeckt diese anders alleine als mit dem Brot gemischt? Und warum ist ihre Konsistenz so weich und das Brot so trocken?
- Und schmecken wirklich alle Puddings gleich, wenn jede Packung ein anderes Muster hat? Ändert sich etwas, wenn ich es anders aufmache und oben anfange? Oder alles schnell vermische? Oder das untere esse?
- Wie fühlt sich eigentlich diese komische Masse an, wenn ich sie mit den Händen knete? Und wenn ich alles mische?
Warum also Lernen bremsen? Oder gar unterbinden? Wir haben doch sicherlich alle schon mal die Erfahrung gemacht, dass Erlebtes sich eher verfestigt als Erzähltes.
„Ich höre und ich vergesse,
ich sehe und ich erinnere mich,
ich tue und ich verstehe.“ – Konfuzius
Was spricht dagegen, Kinder erleben zu lassen, wenn wir es ihnen ermöglichen können?
Viele Eltern argumentieren bei dieser Frage gerne so, dass sie keine Lust haben, ständig die Reste ihrer Kinder zu essen, ihre finanziellen Mittel begrenzt sind oder sie sich eben schlecht fühlen, immer wieder Lebensmittel wegzuschmeißen. Ich kann dies sehr gut nachempfinden. Weder möchte ich angesessenes Essen konsumieren, noch schmeiße ich gerne Essen in den Müll. Aber tue ich das, wenn das Essen zwar nicht aufgegessen wurde, aber dafür bespielt, erfahren und erlebt? Ist es was anderes, wenn ich meinem Kind die Küchenpapierrolle zum spielen gebe und diese auseinandergepflückt wird? Werden nicht auch dort wichtige Ressourcen verbraucht oder gar verschwendet? Und ist der Ressourcenverbrauch und der Schaden in der Umwelt größer, als der, den ich beim Kauf von Spielzeug anrichte?
Was ist aber, wenn mir die finanziellen Mitteln fehlen und auch andere in der Familie etwas davon haben möchten?
Meinen Konsum kann ich nicht mehr rückgängig machen, es kann aber passieren, dass wir aufgrund der Begrenzung meiner verfügbaren finanziellen Mittel, nicht so schnell neue Puddings kaufen können. Auch meine Ressourcen haben eine natürliche Grenze. Diese Begrenzung kann finanzieller Natur sein oder auch natürlich bedingt durch die Bedürfnisse anderer. Wenn ich also drei Kinder habe und nur drei Puddings und alle drei wollen einen, wird leider das Experiment des einen Kindes diesmal ausfallen müssen. Nicht weil „man mit Essen nicht spielt“, sondern weil einfach keines mehr vorhanden ist.
Schade ich mit dieser Haltung Anderen?
Schade ich Menschen, die nicht ausreichend Essen zur Verfügung haben, wenn ich meinem Kind erlaube, ihr Essen zu zermatschen oder die 10 Trauben zu probieren oder gar drei Puddings hintereinander zu öffnen? Menschen, die Hunger leiden, wie es bei solchen Diskussionen gerne eingewendet wird? Und da frage ich mich, ob es diesem hungernden Menschen nutzt, wenn ich meinem Kind bestimmte Erfahrungen verwehre. Wenn es offensichtlich ist, dass der Joghurt bereits gekauft ist, und ich scheinbar nicht vorhatte, dieses Geld stattdessen einem Bedürftigen zu geben oder mein Konsumverhalten (nicht das des Kindes) grundsätzlich zu überdenken? Ich denke nicht, dass dies Erziehung rechtfertigt. Ich erachte es sogar als ziemlich gemein, diese Last auf den Schultern kleiner Kinder auszutragen.
Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass es sehr prägend ist, wenn man im Mangel aufwachsen muss. Und es ist wunderbar, sich um Knappheit nicht sorgen zu müssen. Es ist ein langer Prozess, erlebten Mangel wieder zu relativieren. Bis ich begriffen hatte, dass diese Zeiten um sind, gab es viel „Verschwendung“ oder schlicht Nachholbedarf in meinem Leben. Besonders grausam finde ich es, wenn Mangel künstlich erschaffen wird.
Kinder brauchen Liebe und keine Puddings
Es geht nicht darum, dass Kinder zum Glücklichsein oder für eine gesunde Entwicklung mehrere Puddings oder das Zermatschen von Kartoffeln zu Brei benötigen. Es geht darum, das sie mit Dingen ihrer natürlichen Umgebung auch experimentieren und diese erleben dürfen. Mit ihrer unmittelbaren Lebenswelt vertraut werden wollen. Und wie lange dauert überhaupt diese kurze Lebensphase im Leben eines Kindes? Zwei, drei Jahre? Wie oft macht es diese Art von Experimenten? 1, 2 oder 5 Mal? Steht dies im Verhältnis zum erzieherischen Zeigefinger oder ist hier nicht erneut Phantasie und Begleitung gefragt? Ja, es geht um Liebe und nicht um Puddings.
Es ist nicht die Verknappung, die dazu führt, mit Ressourcen verantwortlich umzugehen, es ist „aus der Fülle zu leben„, wie Nicola es nennt, die einem erlaubt, auf Ressourcen zu achten. Erst, wenn man nicht das Gefühl hat, darum kämpfen zu müssen, kann losgelassen werden.
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Aida S. de Rodriguez
10 Comments
Yardena Gerlach
15. Juni 2016Gerade las ich den ersten (und dann einen älteren als zweiten) Artikel von dir. Und schon flattert ein ganz neuer Artikel zu mir – mit diesem doch eher provokanten Titel.
Es ist ein anderer Aspekt desselben Themas, aber ich frage mich sofort, wie du folgende Situation einschätzen würdest:
Bei uns passiert es immer wieder, dass sich meine Kinder eine Riesenportion Müsli in die Schüssel packen und dann merken, dass da doch die Augen größer waren, als der Magen fassen mag.
Nun überlege ich zum Beispiel, ob ich zum Beispiel das Müsli nicht nachkaufe und die Kinder so selbst zur Erkenntnis kommen lasse, dass mit weniger „Verschwendung“ länger etwas da gewesen wäre. Oder ob ich einfach nur noch kleiner Schüsseln in den Schrank stelle…
Ich glaube, dass es meinen Kindern einfach schwerfällt, die Zusammenhänge zu erkennen – und in ihrem Handeln zu berücksichtigen, obwohl ich mir das aber inzwischen wünschte.
Hier endet für mich das Verschwenden als Sinneserfahrung und Lernprozess und es beginnt etwas anderes. Was und wie gehe ich deiner Meinung nach sinnvoll damit um?
Liebe Grüße,
Yardena
Tete
15. Juni 2016Kleinere Müsli Schale. Mini Schale gibts im Kik für 1 EUR pro 4 Stück
Claudia
16. Juni 2016Natürlich hast du im Grunde recht. Nur lernt ein Kind auch, dass im zweiten Puddingbecher auch Pudding ist, wenn dieser am nächsten Tag geöffnet wird oder ihn die Schwester für sich selbst aufmacht.
Wenn die Experimente andere einen Nachteil bringen, weil zum Beispiel die Pudding alle sind, dann würde es gegen meine Prinzipien stoßen.
Lernen kann man auch,wenn man immer wieder etwas gesagt bekommt und man es einmal selbst probiert und damit es bestätigt ist.
Wenn ich 10 Pudding öffnen lasse um sie am Ende wegzuschmeißen, verlieren diese an Wert. Damit meine ich nicht nur den finanziellen Wert. Für diese Pudding musste ich bis zum Supermarkt oder in der Küche stehen …
Sagen wir mal so, allen Leuten ist klar, dass jedes Gummibärchen süß schmeckt, auch wenn sie als Kind nicht drei Tüten am Stück durchlecken durften.
Ricarda
16. Juni 2016Ich möchte dir für deinen Artikel danken – es macht doch Mut, wenn andere ebenso denken wie man selbst und sich nicht dafür rechtfertigen muss… Unser Tiger darf auch „mit Essen spielen“ und das hat schon manche Diskussion mit Besuch ausgelöst bzw. haben wir mittlerweile recht wenig Besuch beim Essen *schmunzel*…
Vor Kurzem hab ich mich auch mit dem Essen und Kinder beschäftigt – vielleicht hast du ja mal Lust und schaust vorbei 🙂
https://tigersabenteuer.wordpress.com/2016/06/07/experimentierfeld-esstisch/
Weiterhin alles Gute und ich freue mich auf viele weitere tolle Artikel von dir!
Sonnige Grüße,
Ricarda
Holzenkamp Peter
24. August 2019Liebe Damen,
ich kann Euch nur sagen, wie es bei uns während meiner Kindheit war.
Wenn der Teller nicht leer war, musste man / wir die Geschwister – aber auch Cousinen und Cousins / so lange sitzen bleiben, bis dieser „leer“ war. Und dann machte man diesen „Fehler“ nicht wieder. Richtig – falsch – ? Vorteil dieser Methodik und Grundaussage dahinter: Wir haben nach dem Kriege zwar nicht gehungert, aber wir hatten wenig, und das musste eingeteilt werden. Weitere Hintergründe: Tiefer christlicher Glauben
meines Elternhauses, dass soziales Leben / Miteinander nur dann erreicht und stabil gehalten werden kann, wenn alle die Ehrfurcht vor der Schöpfung anerkennen. Essen ist ein Teil der Schöpfung,
Also ein ganz andere Ansatz.
Annemama
18. Januar 2021Vielen Dank für diesen schönen Artikel. Du sprichst mir aus der Seele. Unser Kleiner darf und soll auch mit allen Sinnen erfahren. Das Leben ist viel zu kurz um an diesen schönen Dingen zu sparen.
@Holzenkamp Peter: ist das Essen nicht genauso verschwendet im überfüllten Magen eines satten, gedemütigten und gemaßregelten Kindes wie im Mülleimer? Was außer Frust bewirkt es das Kind zum Essen zu zwingen und dem Druck aller Umsitzenden auszusetzen? Die Antwort ist doch nur wieder: Authorität… der Vater hat Angst, dass jemand merkt, dass die wahren Schöpfer kindlich oder weiblich sind und er damit im Abseits steht. Respekt vor dem Essen hat mit dieser Methode sicher niemand, nur Angst vor dem ollen Herrn.
Und genau das ist wohl nicht umsonst altbacken und wird heute abgelehnt.
Kinder müssen spielen dürfen um kreativ, selbstbewusst, frei und fröhlich zu werden. Und wenn sie das sind, klappt es mit dem Respekt von ganz allein. (Ob der Respekt dann einer 2000 jahre alten Figur und deren unsichtbarem Vater gilt oder einfach den Mitmenschen und Mutter Natur, sei mal dahingestellt)
[…] und wollen trotzdem keine Windeln anziehen. Anziehen ist allgemein ein Thema für sich. Ja, sie schmeißen mit Essen und ihnen ist mit vernünftigen Argumenten oft nicht beizukommen. Sie sind kleine Kinder, die ihre […]
[…] Dinge, wo schnell die „Grenzkarte“ gezogen wird. So wird gerne bei Bildschirmmedien, Spielen mit Lebensmitteln, Körperhygiene, Schlafenszeiten, Süßigkeiten und vielem mehr mit „der persönlichen […]
[…] in der Schulzeit sowie im weiteren Lebensverlauf durch Sozialisierung verinnerlichen. Viele meiner Artikel beginnen mit einer solchen Botschaft, die ich dann durch Informationen und Perspektivenwechsel versuche […]
[…] ein Graus ist, weil du es für Verschwendung hältst, möchte ich dir gern den Artikel „Mit Essen spielt man nicht!“ – Warum Verschwendung für Kinder doch wichtig ist von Elternmorphose da […]
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