Warum „Entschuldigung!“ nicht ausreicht und Höflichkeitserziehung schadet

Seit wenigen Wochen besteht eines meiner Kinder auf das Wort ‚Entschuldigung‘, wenn es sich nicht gesehen oder gar beschämt oder gedemütigt fühlt. Er besteht auch darauf, wenn etwas in seinen Augen ungerecht gewesen ist. Es will dieses vermeintliche „Zauberwort“ hören und in der Tat scheint die Welt für mein Kind daraufhin wieder in Ordnung zu sein bzw. lässt es sich erst dann auf Trost, Nähe und Kuscheln ein. Immer wieder höre ich in solchen Situationen „Sag mir jetzt ‚Entschuldigung‘!“, manchmal ergänzt um eine Drohung oder Erpressung: „sonst haue ich dich/spiele ich nicht mehr mit dir!“. In seinen Augen ist allerdings etwas anderes erkennbar: „Zeige mir, dass ich wertvoll bin und geliebt werde! Ich bin verzweifelt und traurig.“.

Mein Kind erzählte mir in einem ruhigen Gespräch, dass es in seinem Kindergarten die Regel gibt, dass man sich entschuldigen muss (?), wenn man zum Beispiel ein anderes Kind haut. Offenbar war hier also Erziehung am Werk. Sei es, weil es manche ErzieherInnen so leben oder aber andere Kinder es von zuhause mitbringen. Aber selbst ohne diesen äußeren Einfluss probieren Kinder in dem Alter verschiedene Strategien zur Konfliktlösung und Erfüllung der eigenen Bedürfnisse aus. Irritiert war ich zunächst aus verschiedenen Gründen dennoch…

Kinder erleben und übernehmen in der Regel zunächst auf ganz natürliche Weise die Werte und Moralvorstellungen ihrer Bezugspersonen. Das können die Eltern oder aber auch die Bezugspersonen in solch einer Institution sein. Es ist also gar nicht notwendig, sie zur Höflichkeit zu erziehen, viel mehr können solche Regeln, wie so oft, eher schaden. Aus einer ehrlich gemeinten Entschuldigung wird dann ein krampfhaftes Befolgen einer Regel, die am Ende vor allem den begleitenden Erwachsenen ein befriedigendes Gefühl vermittelt. Der Konflikt ist scheinbar gelöst und Friede eingekehrt. Eine trügerische Schlussfolgerung.

Mein hoch kooperatives Kind ist für solche Dinge sehr empfänglich. Es befindet sich mit seinen fünf Jahren auch in einem Alter, in dem Regeln und Gesetze allgemein sehr spannend sind. Verbotsschilder haben eine magische Anziehungskraft auf mein Kind und es vergewissert sich gerne, ob „man“ etwas machen darf oder nicht. Es lernt also seine Welt kennen, sucht nach Orientierung und will zugehörig sein. Im Kindergarten hat es offenbar gelernt, dass sich ein Fehler oder ein Schaden eben mit dem Wort ‚Entschuldigung‘ wieder gut machen lässt. So ist mein Kind auch ziemlich verärgert, wenn man nach einem Äußern des Wortes ‚Entschuldigung‘ seinerseits weiterhin Ärgernis oder Schmerz bekundet. Schließlich habe es doch „Entschuldigung“ gesagt. Die Absurdität dessen dürfte spätestens hier jedem klar sein. Es ist nicht möglich, sich selbst zu „entschuldigen“ und auch Gefühle können nicht auf Kommando abgestellt werden.

Die Strategie, einen Konflikt durch die Äußerung des Wortes ‚Entschuldigung‘ als Regel zu beenden, erlaubt es dem Menschen nicht, ob groß oder klein, wirkliche soziale Kompetenz zu entwickeln. Es nimmt ihm die Chance, sich beim Gegenüber, dem Geschädigten, tatsächlich einzufühlen, vor allem aber vernebelt es unseren Blick auf die Bedürfnisse. Mein Kind will kein Wort hören, es will in Wahrheit gesehen werden, wertvoll sein und sich geliebt fühlen. Es will Trost erfahren und vor allem will es, dass derjenige, der ihm geschadet hat, dafür Verantwortung übernimmt.

Doch übernimmt jemand durch ein aufgezwungenes Wort tatsächlich Verantwortung?

Wohl kaum. Viel eher beugt sich die Person dem Erwartungsdruck anderer und versucht eigenen Schaden abzuwenden.

Dieser Art Regel verdeutlicht sehr gut, die dahinter liegende Haltung: es geht um Schuld. Wer Schuld hat, muss sich entschuldigen. Die Entschuldigung wird zum Akt der Strafe. Das zeigt sich gut in den Drohungen meines Kindes wieder. Entweder die Person gesteht die eigene Schuld ein, wertet sich selber ab und sagt das von ihm verlangte Wort ‚Entschuldigung‘ oder wird bestraft: „Sag mir jetzt ‚Entschuldigung‘, sonst haue ich dich/spiele ich nicht mehr mit dir!“. Beim Verlangen einer Entschuldigung erhebt sich die eine Person über die andere. Der Schuldige wird herabgestuft. „Entschuldige dich!“ ist ein Akt der Demütigung. Es straft.

Das ist auch der Grund, warum das Denken in Schuld so destruktiv ist und nicht zuletzt, warum ich mich zunächst unwohl fühlte, dem Wunsch meines Kindes nachzukommen und dieses vermeintliche „Zauberwort“ auszusprechen. Ich fühlte, dass ich mich dadurch für schuldig bekennen würde und sträubte mich, vor allem dann, wenn ich mich im Recht fühlte und doch „gar nichts getan hatte“. Mir und unserer Beziehung stand für einen Augenblick mein erwachsenes Denken im Weg. Ich wollte mich nicht abwerten lassen und merkte nicht, wie ich hier meinem Kind eine Verantwortung zuschrieb, die es gar nicht tragen kann.

Verantwortung zu übernehmen, bedeutet, ein Problem zu erkennen, welches gelöst werden will. Es ist die Suche nach Antworten und nicht nach einem Schuldigen. Wer Antworten geben kann, ist fähig und kompetent. Wer Verantwortung übernehmen kann, wertet sich selber auf: „Ich bin für etwas verantwortlich und kann das daraus entstandene Problem lösen.“ Dazu gehört auch die Annahme der Verantwortung für die Beziehungsqualität zum Kind. Mein Kind fühlte sich abgewertet, nicht wertvoll, nicht geliebt oder nicht gesehen. Und zwar von mir. Dabei ist es vollkommen irrelevant, ob ich die Intention dazu hatte und welche Strategie es gerade nutzt, um mir dies zu verdeutlichen. Es lag an mir, die Bedürfnisse hinter seiner Strategie – sein Verhalten – zu erkennen und hier nach einer Lösung zu suchen.

Ich erfüllte meinem Kind seinen Wunsch und sagte ihm zusätzlich das, wovon ich glaubte, dass es seinem Bedürfnis besser nachzukommen würde:



"Entschuldigung. Es tut mir leid, wenn ich dich gekränkt habe. Ich liebe dich!"

Anders als das Konzept von Schuld, lässt sich die intrinsisch motivierte Übernahme von Verantwortung nicht anerziehen. Aber genau diese intrinsische Motivation ist es, die es uns ermöglicht, einfühlsam zu sein und tatsächlich nach Lösungen und Antworten für das durch uns verursachte Problem zu suchen. Die gute Nachricht dabei ist, dass wir Menschen und somit auch unsere Kinder soziale Wesen sind, die aus sich heraus ein Gefühl für Verantwortung entwickeln. Immer dann, wenn sie sich wertvoll für die sie umgebende Umwelt und Menschen fühlen, selbstwirksam sein dürfen und nicht zuletzt auch, indem wir es ihnen vorleben!

Wie das geht?

Es kommt tatsächlich nicht nur darauf an, dass wir auf Erziehung verzichten und unsere Kinder somit nicht zu einer Entschuldigung bedrängen. Wenn wir unser eigenes Verhalten betrachten, in Situationen, in denen wir das Vertrauen anderer verletzen, insbesondere das unserer Kinder, werden wir feststellen, dass es zwischen der Art und Weise, wie wir uns entschuldigen, große Unterschiede gibt. Jede von ihnen vermittelt eine vollkommen andere Botschaft.

Es gibt sozusagen zwei Intentionsgruppen bei einer Entschuldigung. Die eine Gruppe hat die geschädigte Person im Blick, die andere vor allem sich selbst im Fokus:

„Bitte verzeih mir! Ich fühle mich ganz schrecklich deswegen.“

Wenn jemand um Vergebung bittet, hat diejenige Person vor allem sich selbst im Fokus und will vom Geschädigten eine Art Absolution erhalten. Der Leidtragende erhält damit auch noch die Verantwortung bzw. die Last auferlegt, das Vertrauen wieder mit aufzubauen. Der Verursacher des Schadens wertet sich zunächst selber ab, sein Konzept ist das der Schuld. Er bedauert vor allem sich selbst und ist darauf bedacht, das eigene Bild wiederherzustellen: „Ich bin kein skrupelloser Mensch. Ich leide auch!“ Es geht primär um das eigene Wohlbefinden und somit wird an das Mitgefühl des Geschädigten appelliert.

„Es war falsch, was ich getan habe. Es tut mir leid.“

Etwas gänzlich anderes ist es, für die eigenen Fehler einzustehen und die Verantwortung dafür zu übernehmen. Manchmal erwarten Eltern dies von ihren Kindern und merken nicht, dass sie selbst etwas vollkommen Gegenteiliges vorleben. Sie versuchen es durch Erziehung zu erzwingen und erkennen nicht, dass Kinder gar nicht verantwortlich sein können. Verantwortung ist die Fähigkeit, eine Antwort zu geben und dafür sind vor allem wir Erwachsenen zuständig. Indem wir Erwartungen an unsere Kinder stellen, geben wir unsere Führungsverantwortung ab und suchen die Lösungen am Kind. Wir fokussieren uns auf das Verhalten und nicht auf die Bedürfnisse. Wir beginnen zu erziehen…

„Sozial verantwortlich handelt, wer die Verantwortung für jene Rollen übernimmt, die er für sich beansprucht.“, schreibt der Psychologe Dr. Michael Depner auf seiner Homepage. Kinder beanspruchen für sich keine Rollen. Sie sind einfach. Weiter schreibt er: „Existenziell verantwortlich handelt, wer das eigene Sosein niemandem anlastet.“ Genau das aber ist sehr oft das Ergebnis von Erziehung. Nicht ohne Grund fällt es uns so schwer, unsere Bedürfnisse zu erkennen und zu artikulieren sowie unsere Kinder sein zu lassen. Wir fallen in die Opferrolle und versuchen sie sozial anzupassen.

Es ist also nicht notwendig, von unseren Kindern ein „Es tut mir leid“ zu verlangen. Im Gegenteil, es ist sogar schädlich und kontraproduktiv. Hinzu kommt, dass es eben nicht ausreicht, sich zu entschuldigen. Die Motivation dieser Entschuldigung ist nämlich entscheidend für die Übernahme von Verantwortung und für die gesendete Botschaft. Dabei ist es sekundär, ob wir unsere Entschuldigung mit Erklärungen ausschmücken, mit denen wir versuchen, für unsere Situation Verständnis zu erzeugen und zugleich zu bekunden, warum es eine Ausnahme bleiben wird und wir dafür Reue empfinden. Es kommt nicht auf unsere Versprechungen oder Angebote der Wiedergutmachung an, die wir oft gar nicht einhalten (können). Die Frage ist, mit welcher Intention wir Dinge tun und auf wen wir dabei schauen. Das ist letztlich das, was wir vorleben. Das sind die Werte, die unsere Kinder immer wieder erleben dürfen. Und darauf haben wir einen großen Einfluss. Ein Leben ohne Erziehung bedeutet immer wieder auf sich zu schauen.

Saluditos & Axé

Eure

Aida

 

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Urheber dieses Bildes ist Martinan, erworben über Fotolia.

About The Author

Aida S. de Rodriguez

Aida ist Mutter eines Zwillingspärchens und eines ein Jahr jüngeren Sohnes. Ihre Kinder wachsen interkulturell, mehrsprachig sowie bedürfnisorientiert auf. Als Coach, Beraterin und Trainerin begleitet sie Menschen rund um die Themen Unerzogen, Selbstwirksamkeit, Transformationsprozesse und Diversity. Ihre Vision ist ein gleichwürdiges Miteinander aller Menschen. Dafür setzt sie sich für die Rechte von Kindern auf gewaltfreien Umgang sowie auf ein selbstbestimmtes Leben und Lernen ein.

4 Comments

  • Luanha

    Reply Reply 19. September 2016

    Alfie Kohn hat in seinem Buch gesagt, dass eine erzwungene Entschuldigung eigentlich eine Lüge ist, die das Kind auf unser Verlangen hin macht. Das ging mir schon immer durch den Kopf, wenn ich im Kindergarten diese von den Erziehern erzwungene Heuchelei gesehen habe.
    Deinen Artikel finde ich gut. Nur muss ich gestehen, dass ich am Ende nicht ganz verstanden habe, wie man nun in einer Streitigkeit handelt? Zwischen meinen Kindern erzwinge ich keine Entschuldigung. Doch ich erkläre, wie der andere sich fühlt. Meist streichelt die 2 jährige ihre Schwester (5) oder andersrum die Große umarmt die Kleine und ebtschuldigt sich, während ich nicht weiter drauf eingehe und mich innerlich freue.
    Was ist nun , wenn das Dilemma zwischen mir und eines der Kinder passiert? Das Kind muss sich nicht entschuldigen, weil es die Verantwortung nicht übernehmen kann?

  • Bettina

    Reply Reply 14. Oktober 2016

    Das spannende ist, dass ich bei den Eltern in meinem Umfeld, die (angeblich) unerzogen erziehen, oft denke: Und wo bleibt das Kind? Seine Orientierung, aber auch seine eigene Verantwortung? Aber umso mehr ich bei dir lese (bzw mich mit dir unterhalten darf), umso öfter denke ich: ja, so mach ich das auch – ist doch auch logisch. Ich bin da noch im Prozess (komme aus einem sehr erzogenen und erziehenden Umfeld) und mag es nicht, nach Theorien zu handeln (eher anders: ich freu mich, wenn ich Theorien kennen lerne, die bestätigen, was ich eh tue). Aber ich finde deine Ansätze großartig. 🙂

  • Julia

    Reply Reply 4. November 2016

    Ich finde es einen spannenden und wertvollen Gedanken, der bei mir aber auch Unsicherheit auslöst.

    Ich kann deinen Worten als Mutter und Ehefrau zustimmen und werde es in unserem Leben berücksichtigen.

    Als Erzieherin stehe ich aber vor einem Dilemma, denn mir fallen Situationen ein, wo ich auch rückblickend keine andere Kurzfristige Lösung sehe, als eine Entschuldigung zu verlangen.

    Ich hatte einmal in meiner Gruppe ein neues, 3 Jahre altes Kind. Das biss und kratzte andere Kinder ins Gesicht. In jedem Augenblick in dem ich nicht hinsah. Es saß neben mir und wir bastelten etwas gemeinsam, ich bückte mich weil die Schere heruntergefallen war. In dieser Zeit sprang das Kind auf und verpasste dem nächsten vorbeigehenden Kind tiefe blutige Fahrer über das ganze Gesicht und versteckte sichd anns elbst unter dem Tisch.
    Festzustellen war auch für lange Zeit, dass es ihr in keiner Weise leid tat. Dieses bedauern entwickelte sich erst in den folgenden Monaten.
    Wie hätte ich anders reagieren können? Als das verletzte Kind zu trösten und zu verarzten, dem kratzenden Kind zu erklären dass das weh tut und ich nicht möchte dass Kinder verletzt werden (auch mal zu schimpfen ) und eine Entschuldigung als Zeichen der Wiedergutmachung zu verlangen um dem gekratzten Kind ein Stückchen inneren Frieden zu gewähren. Natürlich habe ich ihnen auch erzählt, dass das Kind es erst lernen muss und auch wenn es weh tut wir alle Geduld mit dem Kind brauchen, damit es lernen kann, wie man sich in der Gruppe verhält.Doch für das geschädigte Kind reichte das oft eben nicht aus. Von selbst kam nämlich anfangs gar nichts. Es hatte zu Hause eine ganz andere, problembelastete Sozialistation erfahren und kämpfte um Aufmerksamkeit.

    In den letzten Wochen, die ich in der Gruppe mitbekam,bevor ich sfchwangersschaftsbedingt ins Berufsverbot ging, bemerkte ich eine Veränderung. Je nach Tagesform kam das Verletzten anderer seltener vor. Dannach hielt es sich gelegentlich eine Weile in der Nähe des Geschädigten auf und versuchte mitzuspielen, legte seinen Kopf an die Schulter des anderen oder sagte „tschuldigung“.

    Meine Frage ist nun, wie hätte ich diesem Verhalten ohne diese Abwertung begegnen können. auch jetzt wo ich darüber nachdenke kann ich keine alternative Strategie entwickeln.

    Lieben gruß

    Julia

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