Angst ist keine Rechtfertigung für Erziehung – Wie du dein Kind schützt, ohne es in seinen Rechten einzuschränken

Angst, ein uns allen vertrautes Gefühl: Das Herz rast, der Körper zittert, die Gedanken kreisen, die Luft bleibt weg und Adrenalin schießt durch unseren Körper. Wir fühlen uns gelähmt, werden aggressiv oder ziehen uns möglichst schnell zurück. Ein Schutzmechanismus, der unsere Sinne schärft und uns einst vor gefährlichen Raubtieren schützen sollte. Auch heute hilft uns die Angst dabei, Risiken zu minimieren. Ein körpereigenes Warnsystem, das unser Leben und unsere Integrität erhalten soll.

Warum aber ist Angst oft ein schlechter Ratgeber, wenn es um die Begleitung unserer Kinder geht?

Angst verschiebt unseren Fokus auf die Bedrohung und engt unsere Wahrnehmung ein. Alle unsere Sinne sind darauf ausgerichtet, der Gefahr zu entkommen, dieser nicht zum Opfer zu fallen. Wir sind in dem Moment nicht wirklich in der Lage unseren Blick zu öffnen und alle uns vorhandenen Mittel zur Entscheidungsfindung in Anspruch zu nehmen. Dabei sind die Gefahren im Zusammenleben mit Kindern selten so bedrohlich, dass sie ein sofortiges Handeln abverlangen. Viel mehr sind es die vielen alltäglichen Dinge, die uns herausfordern und die wir mit der Brille der Angst beurteilen. Die Antwort darauf lautet oft: Erziehung, Grenzen, Konsequenzen, Verbote und Einschränkungen. Manchmal sogar der Einsatz von körperliche Gewalt:

  • Das Kind, das im Schwitzkasten die Zähne geputzt bekommt, weil die Eltern besorgt um seine Zahngesundheit sind.
  • Das Kind, das nur eine Sendung am Tag schauen darf, weil die Eltern sich so erhoffen, dass damit die eventuell schädlichen Einflüsse von Bildschirmkonsum sich in Grenzen halten.
  • Das Kind, das keine Süßigkeiten essen darf, weil die Eltern befürchten, dass der heutige Zuckerkonsum in der Zukunft möglicherweise Krankheiten auslösen könnte.
  • Das Kind, das gegen seinem Willen, oft festgehalten von zwei Erwachsenen gleichzeitig, die Windeln gewechselt bekommt, weil die Eltern Angst haben, dass es sonst einen wunden Hintern bekommen könnte.
  • Das Kind, das täglich nach der Ganztagsschule zur Nachhilfe muss, weil es in Mathe keine guten Noten schreibt und die Eltern besorgt sind, dass seine ganze Zukunft in Gefahr sein könnte.
  • Das Kind, das seine Jacke nicht ausziehen darf, weil die Eltern fürchten, es könnte sich bei kühlem Wetter erkälten.
  • Das Kind, das nicht im Pyjama in den Kindergarten gehen darf, weil die Eltern sich um die Wahrnehmung der anderen sorgen.
  • Das Kind, das gerne Röcke trägt, aber nicht darf, weil die Eltern fürchten, es könnte als Junge deswegen gemobbt werden.

Die Liste ist unendlich. Und sie wird durch Angst genährt. „Wer (be)droht, hat immer Angst“ heißt es da sehr passend in einem französischem Sprichwort. Wir prüfen nicht uns alle verfügbaren Informationen sowie Handlungsalternativen und positionieren uns erst dann, sondern beschränken uns auf das Erkennen der vermeintlichen Bedrohung. Möglicherweise fühlen wir uns nicht einmal bedroht, sondern es ist lediglich der eigene Automatismus, durch die selbst erfahrene Erziehung und Sozialisierung, der anspringt: „Das macht man nicht“ oder „Das macht man so“.

Reale Bedrohung oder doch nur eine Folge von Erziehung?

Der US-amerikanische Psychologe Harry Harlow macht im 20. Jahrhundert ein interessantes Experiment mit Affen. Dieses Experiment begegnet mir immer wieder bei diversen Seminaren. Es geht dabei um die unhinterfragte Übernahme von bestimmten Verhaltensmuster. Ich versuche es aus meiner Erinnerung wiederzugeben:

Fünf Affen wurden zusammen in einem Käfig gesetzt. In der Mitte wurde eine Leiter angebracht, an deren oberen Ende sich Bananen befanden. Sobald ein Affe die Leiter hinaufkletterte, um an die Bananen zu gelangen, wurden alle anderen Affen im Käfig nass gespritzt. Es dauerte nicht lange und die Affen schlugen jeden Affen, der versuchte an die Bananen zu gelangen.

Nach einer Weile wurde ein Affe ausgetauscht. Dieser wusste nichts vom Wasser und der Reaktion der anderen darauf. Er kletterte auf die Leiter und wurde von den anderen Affen ebenfalls abgehalten. Dieser Affe erfuhr nicht warum die anderen Affen so reagierten, machte aber ebenfalls mit, als der nächste Affe aus der Gruppe durch einen neuen ausgetauscht wurde. Auch dieser versuchte an die Bananen zu kommen. Auch dieser Affe wurde von der Gruppe geschlagen.

Irgendwann waren alle fünf Affen ausgetauscht. Sie alle wurden nie mit Wasser bespritzt. Sie alle wurden aggressiv, wenn einer versuchte auf die Leiter zu steigen …

Alle Affen agierten aus Angst vor der Konsequenz. Aber sie alle hatten die Konsequenz nie erfahren und wussten nicht, was dieses Verhalten einst ausgelöst hatte. Dennoch behielten sie ihre sozialisierte Schutzreaktion bei, obwohl die eigentliche Gefahr längst nicht mehr existierte.

Heißt das nun, dass meine Angst unberechtigt ist, dass ich keine haben darf oder diese gar ignorieren soll?

Nein, ganz im Gegenteil! Es ist sehr wichtig seine Ängste und Sorgen ernst zu nehmen. Diese sich bewusst zu machen und einzugestehen. Es ist wichtig diese zu kommunizieren, aber auch zu reflektieren.

Die Gründe für unsere Ängste und der daraus resultierenden Handlungen können vielfältig sein. Es ist wichtig, dass wir uns die Zeit nehmen, uns mit ihnen zu befassen. Sie erzählen oft eine ganze Menge über uns und unsere innere Haltung. Dadurch haben wir die Chance etwas über unsere tatsächliche Motivation zu erfahren und es schließlich aufzulösen oder aber selbstsicher zu kommunizieren. Angst ist kein guter Ratgeber, wenn es uns an Klarheit über unsere Haltung und Vertrauen in unser Kind und uns selbst fehlt. Das ist eine wahrlich schlechte Kombination, denn sie hinterlässt unsere Kinder orientierungslos und uns selbst überfordert zurück.

Wie kann ich aber konkret damit umgehen, wenn ich Angst habe?

1. Finde heraus, was dir Angst macht und woher diese kommt:

  • Liegt der Angst eine persönliche Erfahrung, ein Erlebnis zugrunde?
  • Habe ich Angst vor konkrete Gefahren? Davor, dass meinem Kind etwas passiert?
  • Habe ich Angst davor als Mutter oder Vater zu versagen?
  • Habe ich Angst vor der Reaktion und dem Urteil anderer?
  • Habe ich Angst davor, dass mein Kind versagt?
  • Habe ich Angst, dass mein Kind leidet?
  • Habe ich Angst vor der jetzigen oder zukünftigen Reaktion meines Kindes?
  • Habe ich Angst, weil mir Rollenvorbilder fehlen und ich dadurch selbst orientierungslos bin?

2. Informiere Dich! Versuche dir ein vollständiges Bild vom Sachverhalt zu machen. Fakten schaffen Klarheit:

  • Habe ich einen tatsächlichen Einfluss auf die Gefahr?
  • Wie könnte ich das Risiko minimieren oder gar vermeiden?
  • Welche Alternative gibt es, um für unser aller Bedürfnisse zu sorgen?
  • Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Worst Case eintritt?
  • Wie bedrohlich und endgültig ist dann der erreichte Zustand tatsächlich?
  • Gibt es Alternativen zu meinen bis dato gewählten Lösungswegen, die von allen angenommen werden könnten?

3. Mache dir bewusst, dass dein Kind ein eigenständiger Mensch ist und das Recht auf eigene Erfahrungen hat:

  • Welchen Preis hat mein Sicherheitsbedürfnis?
  • Steht mein Sicherheitsbedürfnis im Verhältnis zur Einschränkung der Rechte meines Kindes?
  • Unter welchen Umständen darf ich überhaupt die Rechte meines Kindes beschneiden?
  • Warum verweigert mein Kind derzeit die Zahnhygiene? Liegt dahinter ein anderes Bedürfnis?
  • Befindet sich mein Kind in einer bestimmten Entwicklungsstufe und es ist lediglich eine Phase, die respektiert und begleitet werden will?

4. Zeige dich, kläre auf und beziehe die Beteiligten mit ein:

  • „Ich mache mir Sorgen um deine Zähne. Ich befürchte, dass wenn wir sie nicht gründlicher/öfters/regelmäßig/täglich/überhaupt putzen, du Probleme mit deiner Zahngesundheit bekommst. Hast du eine Idee, wie wir es machen könnten?“
  • „Ich bin mir unsicher darüber, wie ich zu deiner schulischen Situation stehe. Meinen Eltern waren damals gute schulische Leistungen sehr wichtig. Ich mache mir Sorgen. Wie geht es dir dabei? Was würdest du dir von mir wünschen?“

Gefühlt sind Kinder immer und ständig in Gefahr:

Beim Essen, aber auch wenn sie nicht essen. Nicht zu vergessen, was sie essen. Wie oft sie was essen und was sie sonst noch beim Essen machen.

Beim Spielen oder wenn sie zu wenig spielen. Wenn sie zu oft alleine spielen, wenn sie nie alleine spielen. Wenn sie das Falsche spielen, wenn sie zu oft das Gleiche spielen.

Wenn sie toben oder gar nicht toben. Aber auch wenn sie zu viel oder zu wild toben.

Wenn sie Fernseher schauen oder zu lange oder zu oft schauen. Wenn sie das Falsche schauen.

Wenn sie zu Hause betreut werden oder in den Kindergarten gehen. Wenn sie zu lange oder zu früh oder auch mal zu spät in den Kindergarten gehen.

Wenn sie in Pfützen springen dürfen oder nicht dürfen.

Wenn sie Sonnencreme aufgetragen oder keine aufgetragen bekommen.

Wenn sie alleine zur Schule laufen, wenn sie zur Schule gebracht werden.

Wenn sie zur Schule gehen müssen oder dürfen, wenn sie zu Hause lernen oder gar nicht zum Lernen angehalten werden …

Egal was, in allem steckt eine potenzielle Bedrohung. Und diese potenzielle Gefahr wird gerne als Grundlage und Rechtfertigung für Erziehung genommen. Die Absurdität dessen dürfte deutlich geworden sein. Es lässt sich aber tatsächlich nicht leugnen, dass es im Leben viele Gefahren gibt. Es ist zudem unsere Verantwortung, Aufgabe und Pflicht sowie auch unser Bedürfnis als Eltern unsere Kinder zu schützen.

Wie also werde ich dem gerecht und schütze mein Kind, ohne es in seinen Rechten einzuschränken? Wie mache ich es, wenn ich nicht erziehen will und mich nun dezidiert mit meiner Angst auseinander gesetzt habe?

Begleite dein Kind in Liebe und Vertrauen und behalte die Verantwortung bei dir: 

  • Schaffe eine sichere Umgebung für dein Kind, in der auch du dich entspannen kannst. Minimiere kalkulierbare Gefahren und sorge so für eine Ja-Umgebung.
  • Unterstütze dein Kind, wenn es Hilfe benötigt oder die Situation nicht gut zu überblicken ist. Anstatt dein Kind daran zu hindern auf den Baum zu klettern oder diese Erfahrung ihm madig zu machen, kannst du ihm deine Hand anbieten und festhalten. Anstatt deinem Kind die Party zu verbieten, kannst du es in der Nacht vor Ort abholen.
  • Wende im Notfall schützende Macht an und rette dein Kind. Wenn dein Kleinkind auf die befahrene Straße zuläuft, halte es fest. Erwarte nicht, dass es das versteht und sich an deine Ansagen hält. Auch dann nicht, wenn es in der Vergangenheit geklappt hat. Du musst aufpassen. Es ist dein Job! Es trägt keine Verantwortung.
  • Suche das Gespräch, wenn die Akut-Situation vorbei ist. Kläre über die Gefahren auf und biete Lösungen an, wie man sich schützen kann. Eine Treppe verliert schnell ihre Bedrohlichkeit, wenn man sich festhält. Besonders dann, wenn man gerade lernt diese auf- und abzusteigen. Diese Information kann sehr hilfreich sein und wird oft gerne angenommen.
  • Lebe vor und bringe deinem Kind den gleichen Respekt entgegen, den du dir wünschst. Informiere es, wenn du erst später nach Hause kommst. Verabschiede dich, wenn du das Haus verlässt. Sage Bescheid, wenn du kurz woandershin gehst.

Es ist nicht immer einfach, die Entscheidungen unserer Kinder zu akzeptieren. Wir müssen auch nicht wirklich immer darüber erquickt sein und dürfen oder sollten sogar mit ihnen darüber in den Austausch gehen. Sie zu unterstützen, begleiten, aufklären und informieren ist unsere Aufgabe. Doch das gibt uns nicht das Recht, ihnen Vorschriften zu machen und sie in ihre Freiheit zu beschränken.

Gib deinem Kind – im Wissen deines Vertrauens und in der Sicherheit deiner Liebe und Zuwendung – die Chance sich zu entfalten, indem es seine eigenen Erfahrungen, in seinem eigenen Tempo machen darf. Das ist der beste Schutz und Hilfe gegen die Angst.

 

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Saluditos & Axé

Aida S. de Rodriguez

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