„Wenn das so einfach wäre!“ – unerzogen leben

Nein, auf Erziehung zu verzichten, ist nicht immer einfach. Schließlich wurden wir einst auch erzogen und die Mehrheit der Menschen um uns erzieht immer noch. Erziehung ist überall. In uns und um uns. Wie sollte es da einfach sein, darauf zu verzichten?



Auf Erziehung zu verzichten ist ein Prozess - ein lebenslanger Lernprozess

Und ja, dieser ist mitunter verdammt anstrengend, denn wir verlassen dabei unsere Komfortzone und müssen uns teilweise ganz schön strecken. Vor allem aber müssen wir Vertrautes hinter uns lassen, um so Raum für Neues zu schaffen, auch wenn wir noch keine wirkliche Ahnung davon haben, wie die konkrete Umsetzung letztlich „funktionieren“ könnte. Und das macht durchaus auch Angst, verunsichert und ruft Widerstand hervor. Mehr dazu, kannst du in meinen Artikel Wenn „Beziehung statt Erziehung“ uns in die Krise stürzt lesen.

Nicht nur bei uns selbst, sondern auch in unserem Umfeld werden Ängste und Widerstände sichtbar. Unser „Unerzogensein“ konfrontiert auch andere mit ihrem bewussten oder unbewussten Schmerz. Einige fühlen sich kritisiert, andere inspiriert. Manch einer sieht die Bedrohung, viele die Chance. Was bleibt, ist die Herausforderung und viele Fragezeichen im Kopf.

Es macht keinen Sinn, Ängste zu verdrängen oder zu ignorieren. Nicht bei uns und nicht bei anderen. Die Antwort auf Angst kann nur Empathie und Aufklärung sein. Der Weg von Angst zu Vertrauen und Liebe führt über Bewusstsein und Annahme. Einige Missverständnisse Rund um unerzogen habe ich hier aufgelöst.



Der Weg ist das Ziel

Auf Erziehung zu verzichten, bedeutet nicht, dass wir die altbewährten Ziele ohne Erziehung erreichen. Es bedeutet tatsächlich auf Ziele zu verzichten.

Nicht, weil wir als unerzogene Mütter oder Väter unseren Kindern nicht das größte Glück auf Erden wünschen, sondern weil wir vertrauen können, dass Menschen sich aus sich selbst heraus entwickeln, Teil der Gemeinschaft sein wollen und vom Wesen her kooperativ sind. Vor allem aber können wir keine Ziele für jemand anderes haben, ohne denjenigen zum Objekt zu degradieren. Ziele können wir hingegen für uns selbst setzen. Diese können allerdings kein Endprodukt beinhalten, wie beispielsweise ein wohlerzogenes Kind oder einen erfolgreichen Erwachsenen, sondern nur den eigenen Weg beschreiben, um die Eltern sein zu können, die wir sein wollen. Zum Beispiel zugewandt, präsent und authentisch, weil wir uns wünschen, unseren Kindern so zeigen zu können, dass sie sich auf uns verlassen, auf uns zählen und uns vertrauen können.

Es geht also um uns. Immer. Und somit müssen wir auch den Blick zunächst auf uns richten, wenn etwas in unsere Beziehung zu unseren Kindern schief läuft. Nicht das Verhalten unserer Kinder ist das Problem, sondern unsere Unfähigkeit das Bedürfnis dahinter zu erkennen, für uns selbst zu sorgen und achtsam zu sein. Auch in Bezug auf unseren Lebensrahmen, ob nun selbst gewählt oder nicht. Die Verantwortung für die Qualität der Beziehung zu unseren Kindern tragen ohnehin wir.



Erziehung führt zu Unfähigkeit

Das ist einer der Gründe, warum ich auf Erziehung verzichte, auch wenn es alles andere als einfach ist. Durch Erziehung richten wir uns darauf aus, was andere brauchen, erwarten und wollen. Diese „Anderen“ sind allerdings eine gesichtslose Masse, die wir für gewöhnlich als „man“ bezeichnen. In meinen letzten Artikel ging es um genau diese Rollen, die wir einnehmen und die verhindern, dass wir authentische Beziehungen eingehen sowie gewaltfrei führen können.

Wir quälen uns mit Fragen wie:

  • Was erwartet der oder jene von mir? Denken sie vielleicht, ich habe meine Kinder nicht im Griff?
  • Werde ich angenommen, wenn ich dies oder jenes tue oder sage? Wie sage ich Nein?
  • Wie sollte ich sein, damit ich in dieser Gesellschaft respektiert oder wenigstens nicht verurteilt werde? „Der Will wohnt hier nicht…!“
  • Wie erhalte ich die Wertschätzung meines Chefs? In der Schule gab es Noten und im Job? Weiß ich überhaupt, was Wertschätzung ist oder laufe ich eher einer Bewertung und Beurteilung nach, weil ich den Unterschied gar nicht kenne?
  • Ist das, was ich leiste, auch genug? Bin ich gut genug?
  • Bin ich ok, so wie ich bin? Werde ich von meinen Eltern geliebt?
  • Werde ich überhaupt wahrgenommen? Warum reagiert niemand auf meine Posts im sozialen Netzwerk? Wie erhalte ich die Anerkennung meines Partners oder meiner Partnerin? Weil ich den ganzen Tag außer Haus gearbeitet habe oder den Haushalt schmeiße und mich um die Kinder kümmere…

Diese und andere Fragen begleiten sehr viele Menschen durchs Leben, wodurch sie immer hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben. Viele fühlen sich leer, innerlich – auch unter vielen Menschen – einsam und quälen sich mit Selbstzweifeln. Dabei ist die Frage nicht, ob wir von anderen wahrgenommen werden, sondern ob wir in der Lage sind, uns selbst wahrzunehmen!?

Wie geht es dir heute? Was fühlst du? Was brauchst du? Wer bist du? Wo willst du hin? Wann hast du dich zuletzt mit dir auseinandergesetzt? Mit dir! Nicht mit den Vorstellungen anderer!



Beurteilungen halten uns klein und verfälschen unser Bild von uns selbst

Ich hatte durchaus eine Vorstellung davon, wer ich bin und musste letztlich feststellen, dass viele dieser Bilder über mich selbst nichts mit mir zu tun haben oder gar jemals hatten. Ich erinnere mich zum Beispiel daran, wie ich von der sechsten in die siebte Klasse aufs Gymnasium wechselte. Mein damaliger Englischlehrer gab mir gleich in der ersten Unterrichtsstunde zu verstehen, dass meine Aussprache aufgrund meines rollenden Rs nicht seinen Ansprüchen genügen würde und ich wohl „kein Talent für Sprachen“ hätte. Auch wenn ich zu dem Zeitpunkt bereits zwei Sprachen auf muttersprachlichem Niveau sprach und mich auf zwei weiteren mit Brieffreunden im Ausland verständigte, glaubte ich ihm und zog mich aus Scham im Unterricht zurück. Ich merkte erst viele Jahre später, nachdem ich bereits sechs Sprachen sprach, mehrere davon auf muttersprachlichem Niveau, und auch das Latinum gemacht hatte, dass er im Unrecht war. Erst viele Jahre nach der Schule, beinahe am Ende meines Studiums, traute ich mich Englisch zu sprechen.



Erziehung unterbindet Achtsamkeit

Ein anderes Phänomen, welches ich immer wieder beobachte und von dem auch ich mich nicht freisprechen kann, ist ein Nichtbeachten der eigenen körperlichen Signale. Wie oft missachten wir zum Beispiel körperliches Unwohlsein, reden es klein und sprechen zu uns selbst, wir sollten „uns nicht so anzustellen“? Aber wie sollte es auch anders sein? Warum sollten wir zum Beispiel auf unsere Kopf- oder Nackenschmerzen achten, wenn uns früher ein „ist doch nicht so schlimm“ oder ein „schrei nicht so“ entgegenkam? Woher sollen wir wissen, was uns unser Körper zu sagen versucht, wenn uns von klein an mitgeteilt wurde, dass andere besser wissen als wir selbst, was für uns gut ist und wie es uns geht?



Der Weg zurück zu sich selbst "kostet" und lohnt sich dennoch

Um zu erfahren wer ich bin, habe ich viel Zeit, Kraft und nicht zuletzt auch eine ganze Menge Geld investiert. Ich musste verlernen, was ich in all den Jahren zuvor über mich und das Sein-Sollen verinnerlicht hatte, um so tatsächlich mich kennenlernen zu können. Ich bin beinahe täglich über neue Erkenntnisse über mich erstaunt. Meine Kinder waren und sind mir dabei eine große Hilfe. Ihre Bedürfnisse, Wünsche, Stimmungen – ihr Sein konfrontiert mich täglich mit meinen Themen. Aktuelle und verdrängte. Neue bewusste und unbewusste Überzeugungen sowie auch lange anerzogene. Sie bringen alles an die Oberfläche. Und ja, das ist anstrengend und alles andere als einfach.

Durch Erziehung verlernen wir die Fähigkeit, uns selbst wahrzunehmen. Wir wissen oft nicht, wer wir sind, wollen oder können. Ist es da nicht naheliegend, dass es alles andere als einfach ist, selbst auf Erziehung zu verzichten und auf all das bei unseren Kindern einzugehen? Und ist das nicht dennoch bereits Grund genug, unseren Kindern genau das zu ersparen und es, eben aus dieser eigenen Erfahrung heraus, anders machen zu wollen? Nicht, weil unsere Eltern schlechte Eltern waren und alles falsch machten, sondern weil wir uns heute dieser Fragestellung widmen können und Erziehung uns eben nicht stark gemacht oder auf das Leben vorbereitet hat. Über Resilienz kannst du hier mehr erfahren.

Unerzogen zu leben ist ein langwieriger Prozess, schließlich wurden wir über viele Jahre hinweg erzogen. Es ist oft nicht einfach und doch sehr bereichernd und erfüllend. Auf dem Weg hilft es, sich in Selbstempathie zu üben…

Saluditos & Axé

Eure

Aida S de Rodriguez

 

 

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Foto topshots, erworben bei Fotolia.

About The Author

Aida S. de Rodriguez

Aida ist Mutter eines Zwillingspärchens und eines ein Jahr jüngeren Sohnes. Ihre Kinder wachsen interkulturell, mehrsprachig sowie bedürfnisorientiert auf. Als Coach, Beraterin und Trainerin begleitet sie Menschen rund um die Themen Unerzogen, Selbstwirksamkeit, Transformationsprozesse und Diversity. Ihre Vision ist ein gleichwürdiges Miteinander aller Menschen. Dafür setzt sie sich für die Rechte von Kindern auf gewaltfreien Umgang sowie auf ein selbstbestimmtes Leben und Lernen ein.

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