Eines der größten Missverständnisse, welches mit unerzogen einhergeht, ist der Glaube, dass Kinder, die keine Erziehung erfahren zu abhängigen und egoistischen Erwachsenen werden.
Wie soll ein Kind lernen Rücksicht zu nehmen, wenn es nie dazu angehalten wird?
Wie soll es teilen lernen, wenn es nie teilen muss?
Wie soll das Kind je selbständig werden, wenn es selbst mit fünf Jahren noch jeden morgen angezogen oder mit zwei Jahren durch die Gegend getragen wird?
Es kann doch nur sein, dass solch ein Kind, ein ganz rücksichtsloser und verwöhnter Mensch wird! Oder?
Um unabhängige Erwachsene zu werden, müssen Kinder, so scheint es, eine ganze Menge sehr früh lernen:
- Sie müssen alleine schlafen lernen und das oft bereits in ihre ersten Lebensmonate.
- Sie müssen mit ca. zwei Jahren trocken werden.
- Sie müssen laufen, sobald sie motorisch dazu in der Lage sind.
- Sie müssen sich alleine anziehen, sobald sie ein Alter erreicht haben, wo dies offenbar auch andere können oder aber sie bereits einmal zeigten, dass sie es können.
Sie müssen dies und eine Menge mehr Dinge sehr früh lernen.
Ich frage mich, was dies für eine Art von Unabhängigkeit ist?
Glaubt wirklich jemand, dass ein Kind, welches mit zwei Jahren keine Windel mehr tragen durfte, ein unabhängigerer Erwachsener wird?
Glaubt wirklich jemand, dass ein Säugling, dass alleine schlafen muss, schneller selbständig wird?
Was ist das überhaupt für einen Stress, den wir uns da machen? Warum wollen wir so dringend an der Uhr drehen?
Oder ist es schlicht unglaubliche Überforderung und Erschöpfung und man weiß sich nicht anders zu helfen als es Erziehung zu nennen und die Verantwortung darauf zu schieben? Ist es ein Schrei nach Hilfe und Unterstützung?
Und heißt das dann, dass diese nun selbständige Kinder auch selbständig entscheiden dürfen?
Zum Beispiel, wann sie essen? Ob sie essen? Was sie essen?
Dürfen sie entscheiden, ob sie ein Buch oder doch lieber sich auf YouTube ein Filmchen anschauen?
Dürfen sie selbstbestimmt ins Bett?
Nein?
Das heißt also, spätestens ein Kleinkind muss alleine schlafen lernen, weil es dazu groß genug ist, darf aber zugleich nicht darüber entscheiden, wann es müde ist und ins Bett will, weil es dazu doch noch zu klein ist?
Ein zweijähriges Kind muss also reif genug sein seine Windeln endgültig abzulegen, darf aber zugleich nicht darüber entscheiden, was es isst, weil ihm dazu die nötige Reife fehlt?
Ich verwehre Geborgenheit, übergehe die körperlichen Fähigkeiten und schränke das Selbstbestimmungsrecht ein, im Namen der Unabhängigkeit?
Geht es überhaupt um Unabhängigkeit oder doch eher um Gehorsam? Konformität? Kontrolle? Macht?
Schlimmer noch: „weil das halt jeder so macht“?
Wie verhält es sich hier um den Wunsch nach unabhängigen Kindern?
Wann sind Kinder gut erzogen und wann wird aus ihnen gelungene Erwachsene?
Wir sind große Meister darin über Kinder zu urteilen.
Gute Kinder machen keine Arbeit, sind immer kooperativ und fallen im Grunde gar nicht weiter auf. Sie sagen zu allem Ja, sind einfach zu handhaben, halten den Mund, geben keine Widerworte und passen sich unserem Leben an. Diese Kinder nennen wir gut erzogen, brav, lieb und artig. Ihren Eltern lassen wir eine Menge Anerkennung zukommen.
Böse Kinder hingegen sind ganz schön nervig, denn sie machen sich ständig bemerkbar. Sie setzen sich für ihre Bedürfnisse ein und haben einen eigenen Willen. Sie protestieren, ärgern sich und triggern ihre Eltern in einer Tour. Es ist gar nicht möglich diese Kinder zu übersehen. Wir nennen sie Tyrannen oder diagnostizieren sie sogar. Ein passendes Etikett findet sich schließlich immer. Ihre Eltern sind in der Regel entweder unfähig oder einfach zum bemitleiden. Das Kind ist in jedem Fall falsch, ob nun als Ergebnis der Erziehung der Eltern oder aber aufgrund seiner angeborenen (?) Boshaftigkeit. Notfalls ist es eben krank…
So oder so ähnlich wohl das gängige Bild in den Köpfen der Menschen in der hiesigen Gesellschaft über gute, artige und brave Kinder sowie über böse, tyrannische oder vermeintlich gar „erkrankte“ Kinder.
Wie aber nun soll ein Mensch sein, wenn er Erwachsen ist? Wann ist dann seine Erziehung gelungen und er in der Gesellschaft anerkannt und erfolgreich?
Nun, ein Erwachsener sollte für sich einstehen können. Er sollte einen starken Willen haben und sagen können, was er denkt und braucht. Ein Erwachsener setzt Grenzen und kann selbstbewusst Nein sagen. Er sollte entscheidungsfreudig und verantwortungsbewusst sein. Empathisch und liebevoll…
Fassen wir das einmal zusammen:
Kinder sollen möglichst früh unabhängig werden. Bereits im Säuglingsalter treiben wir sie dazu an. Spätestens mit der Autonomiephase aber beginnen wir sie zu erziehen und schränken ihr Selbstbestimmungsrecht ein. Wir lassen sie keine Entscheidungen über sich selbst treffen, da wir sie dafür nun für zu jung halten. Wir entscheiden was sie essen und wann sie es essen. Wir entscheiden wie sie ihre Freizeit verbringen und wie viel Freizeit sie haben. Mitunter entscheiden wir sogar was sie anziehen oder später beruflich machen sollen. Als Erwachsene aber müssen sie wieder unabhängig sein und gelernt haben Entscheidungen zu treffen…
Fazit: Schlaftraining und Sauberkeitserziehung führt zu unabhängigen Erwachsenen!
Nein?
Oh je, ich komme da wohl nicht mehr mit…
Was wir verstehen müssen:
Kinder sind abhängig. Ob wir es nun wollen oder nicht. Sie sind von uns abhängig ihre Bedürfnisse erfüllt zu wissen. Ohne ihre Bezugsperson sind sie nicht überlebensfähig. Es widerspricht der Natur hier die Uhr schneller laufen lassen zu wollen. Zumal es gar unmöglich ist. Es ergibt schlicht keinen Sinn und obendrauf ganz viel kaputt, denn Kinder sind auch für eine gesunde seelische Entwicklung von uns abhängig!
Ein Baby, welches alleine einschlafen muss, obwohl es weint, lernt nicht zu schlafen. Es lernt sich tot zu stellen. Es lernt sich abzuspalten und, dass seine Bedürfnisse nicht erhöht werden.
Ein Kind, das nicht vom Töpfchen aufstehen darf, solang es nicht hinein gepullert hat, lernt nicht seine Muskeln zu kontrollieren, sondern es wird schlicht dressiert und konditioniert. Es lernt vor allem, dass es nicht auf seinen Körper zu hören braucht, sondern auf jemanden, der sagt, was für eben diesen sein muss.
Ein Kind, was immer laufen soll, weil es diese Fähigkeit erlangt hat, lernt nicht schneller zu laufen und wird auch nicht eher unabhängig. Es ist schlicht schneller erschöpft, wird vermutlich bestimmten Dingen gänzlich aus dem Weg gehen und vor allem die Erfahrung machen, dass neue Fähigkeiten ihm Nachteile einbringen und die Geborgenheit der Eltern ihm dann verwehrt bleibt.
Wenn wir aber unseren Kindern das Gefühl geben bei uns geborgen und sicher zu sein sowie die Sicherheit ihre Bedürfnisse erfüllt zu wissen, können sie loslassen und ihre Welt selbstsicher erkunden. Wenn wir ihnen dann auch noch die Möglichkeit einräumen, in diesen geschützten Rahmen, eigene Erfahrungen zu machen sowie eigene Entscheidungen zu treffen, für sich einzustehen und den eigenen Willen zu zeigen, haben sie gute Chancen eines Tages selbstbewusste und unabhängige Erwachsene zu werden.
Erst in Sicherheit bin ich bereit loszulassen! Das gilt auch für unsere Kinder.
Wir brauchen keine braven Kinder, was wir brauchen sind respektvolle, empathische Erwachsene.
Aida S. de Rodriguez
9 Comments
Elisa Prall
16. Mai 2016So ein toller Beitrag!
Ich wünsche mir so sehr, dass viele Eltern ihre Augen öffnen und das erkennen.
Aida S. de Rodriguez
22. Mai 2016Dankeschön, Elisa! <3
andreas
21. Mai 2016Ein wunderbarer Beitrag. Einfach empfehlenswert.
Aida S. de Rodriguez
22. Mai 2016Dankeschön, Andreas! 🙂
Maria von OstSeeRäuberBande
30. Mai 2016Was für ein wundervoller Beitrag!!!
Da werde ich mal weiter in deinem Blog stöbern…
Ich denke und „arbeite“ mich gerade in dieses Thema hinein, obwohl wir vieles schon intuitiv sehr unerzogen gehandhabt haben. Aber es gibt auch noch viel zutun. Jedenfalls hab ich gerade in meinem Blog darüber berichtet und werde diesen tollen Beitrag im aktuellen Post empfehlen.
Viele Grüße,
Maria von OstSeeRäuberBande
Aida S. de Rodriguez
8. Juni 2016Danke, liebe Maria! <3
Dein Blog habe ich mir bereits angeschaut und werde weiter darin stöbern! Es freut mich, dass du neugierig auf unerzogen bist bzw es bereits intuitiv lebst! 🙂
Liebe Grüße
Aida
Meral
22. Januar 2017Ein toller Beitrag! Ich versuche auch viel in unserem Alltag mit unerzogen und das Ergebnis am Abend ist: man hat kaum Stress und ist wirklich allgemein glücklicher. Mein Kind ist im Kindergarten und wird dieses Jahr eingeschult,wobei die Erzieherinnen über mein damaliges nicht mal 5 jähriges Kind wegen Sozialverhalten dieses gerne ausschliessen wollten und sogar zum Psychologen geraten haben! War bei einer Elternberatungsstelle und die haben bestätigt das das Verhalten absolut normal und altersgemäss ist. Was macht man allerdings wenn das Kind in der Schule ist? Viele sagen dort sind die Erwartungen viel höher dass ein Kind funktioniert.
[…] Selbständigkeit ist eng mit Selbstbestimmung verknüpft. Menschen lernen durch aktives Handeln und Erleben. Kinder spielen und begreifen dabei ihre Welt. Sie lernen spielerisch zu sprechen und zu laufen. Sie lernen am Vorbild, durch Resonanz und spielerischem Ausprobieren soziale Normen. Sie tun all das wie „beiläufig“ aus sich heraus und in Beziehung. Spielen ist eine der wichtigsten Formen des Lernens. Sie ist eng verknüpft mit Neugierde und der Lust das Unbekannte zu entdecken, was wiederum untrennbar verbunden mit einer Beschäftigung ist. Während Menschen spielen, sind sie konzentriert und beschweren sich zum Beispiel nicht über Anstrengung. Kinder können den ganzen Tag rennen, springen, hüpfen und tun dann alles um weitermachen zu dürfen. Ist man dann zum Beispiel vom Spielplatz auf dem Weg nach Hause, sind die Beine plötzlich so schwach, dass kein weiterer Schritt mehr möglich ist. Sie machen uns dabei nichts vor, sondern die Erregung lässt nach und die Müdigkeit kann sich zeigen. Das kennt jeder, der begeisterte Sportler ist oder leidenschaftlich einen Beruf nachgeht. Konzentration ist also ein Nebenprodukt einer durch Neugierde entstandene, fesselnde und einnehmende Beschäftigung, die die gesamte Psyche beansprucht. […]
[…] können wir aber den Unabhängigkeitsprozess unserer Kinder […]
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